Urfins Heimweg war eine einzige Qual. Er wollte unerkannt zurückkehren, aber Kaggi-Karr duldete das nicht. Mit Hilfe ihrer zahlreichen Verwandtschaft beobachtete die Krähe jeden Schritt des Ausgestoßenen. Alle, die an der Gelben Backsteinstraße lebten, wurden von den Abgesandten Kaggi-Karrs über das Nahen Urfins unterrichtet.
Männer und Frauen, Greise und Kinder standen entlang der Straße Spalier und warfen Urfin verächtliche Blicke zu. Dieser hätte es leichter ertragen, wenn sie geschimpft oder mit Steinen und Knüppeln nach ihm geworfen hätten. Aber die Grabesstille, der Haß, der in ihren Gesichtern stand, die eiskalten Augen – das war viel, viel schlimmer.
Die rachsüchtige Krähe hatte alles genau berechnet. Urfins Weg in die Heimat war eine endlose Qual.
Mit welcher Wonne hätte er sich auf jeden seiner Feinde gestürzt, ihn an der Kehle gepackt und gewürgt! Das Röcheln des Opfers wäre Musik in seinen Ohren. Doch das konnte sich Urfin jetzt nicht leisten. Die Zähne zusammengepreßt und den Kopf gesenkt, ritt er auf seinem Bären, ohne nach links oder rechts zu schauen.
Der Clown Eot Ling saß auf seiner Schulter und flüsterte ihm ins Ohr:
»Mach dir nichts draus, Gebieter, alles geht vorüber! Wir werden es ihnen heimzahlen!«
Urfin schlief im Wald unter einem Baum. Er wußte, daß kein Einwohner des Smaragdenen oder des Blauen Landes ihm ein Obdach für die Nacht angeboten hätte. Der Ausgestoßene ernährte sich von Früchten, die er von den Bäumen pflückte, und magerte schnell ab. Als er sich dem Wald der Säbelzahntiger näherte, wünschte er fast, daß eine dieser Bestien ihn überfalle und seinen Qualen ein Ende mache. Aber der Lebensdrang und der Wunsch, sich für die erlittenen Kränkungen zu rächen, waren in ihm stärker, und Urfin kam unbemerkt durch den gefährlichen Wald.
Da stand auch schon sein Haus. Mit Erleichterung stellte der Ausgestoßene fest, daß die Käuer es nicht angerührt hatten. Er holte den Schlüssel aus dem Versteck, sperrte die Tür auf und ging durch die düsteren Zimmer, in denen sich während seiner langen Abwesenheit viel Staub angesammelt hatte.
Erster Teil. Der Riesenvogel

Sieben Jahre waren nach der Vertreibung Urfins aus der Smaragdenstadt vergangen, und vieles hatte sich in der Welt geändert. Elli Smith hatte die Schule beendet und ein pädagogisches College in der Nachbarstadt belegt, um Lehrerin zu werden. Ihre jüngere Schwester, Ann (sie wurde geboren, als Elli sich im unterirdischen Königreich befand), ging in die 1. Klasse und lernte das Abc.
Der einbeinige Seemann Charlie Black hatte ein Schiff gekauft und mehrere Reisen nach den Inseln Kuru-Kusu unternommen, deren Bewohner ihn jedesmal freudig empfingen.
Wie aber sah es im Wunderland aus?
Die Zwinkerer und die Käuer lebten wie eh und je, doch völlig verändert hatte sich das Leben der unterirdischen Erzgräber, bei denen sich Elli während ihrer letzten Reise im Zauberland aufhielt.
In einer riesigen Höhle dieses Landes hatten Elli und ihr Cousin Fred Cunning viele wunderbare Abenteuer erlebt. Es war ihnen gelungen, die Schlafwasserquelle wieder sprudeln zu lassen und die sieben unterirdischen Könige einzuschläfern, die abwechselnd das Land regiert hatten. Das Merkwürdigste an der Sache war, daß die Monarchen nach ihrem Erwachen ihre königliche Würde völlig vergaßen und sich in Hufschmiede, Bauern und Weber verwandelten. Wie ihre ehemaligen Untertanen arbeiteten sie jetzt, um sich und ihre Familien redlich zu ernähren.
Nach dem Sturz der Könige waren die Einwohner des unterirdischen Landes in die obere Welt gezogen, wo sie sich auf brachliegenden Böden in der Nachbarschaft der Käuer niederließen. Sie säten Weizen und Flachs, trieben Gartenbau, mästeten Vieh und bearbeiteten Metalle. Lange Zeit trennten sie sich nicht von den Sonnenbrillen, denn ihre an das Halbdunkel gewöhnten Augen konnten das Tageslicht nur schlecht vertragen. [3] Von der dritten Reise Ellis erzählt das Buch “Die sieben unterirdischen Könige".
In Urfins Leben hatte sich während der langen Jahre der Abgeschiedenheit nichts geändert. Er zog in seinem Garten Gemüse, von dem er jährlich drei Ernten einbrachte.
Beim Umgraben der Beete untersuchte der ehemalige König sorgfältig den Boden seines Gartens. Er lechzte danach, Körnchen von der wunderbaren Pflanze zu entdecken, aus der er das lebenspendende Pulver gewonnen hatte. Jetzt würde er gewiß nicht mehr Holzsoldaten damit beleben, o nein! Er würde ein eisenbeschlagenes Ungeheuer anfertigen, unverwundbar gegen Pfeile und Feuer, und erneut Herrscher des Wunderlandes werden!
Aber all sein Suchen war vergeblich und obendrein sinnlos. Wäre auch nur ein einziger Keim der ungewöhnlichen Pflanze der Vernichtung entgangen, so hätte sie doch den ganzen Garten überwuchert!
Jeden Abend und jeden Morgen blickte Urfin zum Himmel, in der Hoffnung, daß wieder ein Gewitter käme, wie einst, das die Samen der ungewöhnlichen Pflanze hierher verweht hatte. Es gingen zwar Gewitter über das Land nieder, aber sie hinterließen nichts als wüste Zerstörung.
Urfin, der im Bewußtsein seiner Macht über Tausende und aber Tausende Menschen geschwelgt hatte, mußte sich jetzt mit dem bescheidenen Los eines Gärtners zufriedengeben. Natürlich brauchte er sich unter dem segensreichen Himmel des Zauberlandes nicht um Essen zu sorgen, um so mehr, als der Bär ihm oft fette Kaninchen und Hasen aus dem Walde brachte.
Aber nicht darauf waren die Sinne des Ausgestoßenen gerichtet. Jede Nacht träumte er von einem königlichen Gewand, und jeden Morgen erwachte er enttäuscht und mit klopfendem Herzen.
In den ersten Monaten seines Einsiedlerlebens traf Urfin bei seinen Spaziergängen oft Käuer, besonders, wenn er in Richtung des kleinen Dorfes Kogida ging, in dem er geboren worden und aufgewachsen war. Die Landsleute mieden ihn aber und wichen seinen Blicken aus. Selbst ihre Rücken schienen Haß gegen ihn auszustrahlen.
Aus den Wochen wurden Monate und aus den Monaten Jahre. Mit der Zeit legte sich der Haß, und die Erinnerung an Urfins Verbrechen verblaßte.
Nach etlichen Jahren begannen die Einwohner Kogidas den Ausgestoßenen freundlich zu grüßen. Hätte Urfin jetzt in das Dorf umziehen wollen, so hätte ihn niemand daran gehindert. Aber Urfin erwiderte nur trocken die Grüße der Leute und ließ sich mit niemandem in ein Gespräch ein. Sein ganzes Gebaren zeigte, daß die Gesellschaft der Menschen ihm unangenehm sei. Die Käuer zuckten mit den Schultern und ließen den menschenscheuen Gärtner zufrieden. Urfin aber spann weiter seine rachgierigen Träume.
Als er einmal um die Mittagszeit in seinem Garten grub, hörte er über sich ein wildes Geschrei. Aufblickend gewahrte er im azurblauen Himmel drei Adler, die erbittert miteinander kämpften. Zwei schlugen mit ihren Schnäbeln und Schwingen wild auf einen dritten ein, der sich verzweifelt wehrte. Zuerst schienen die Adler nicht besonders groß zu sein, aber als sie tiefer herabstiegen, erkannte Urfin, daß es ungeheuer große Vögel waren.

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