Alfred schreckte noch etwas anderes: Wenn durch die Erschütterung die Gewölbe der unterirdischen Höhle einstürzen und das altertümliche Schloß der unterirdischen Könige, das in allen Regenbogenfarben schillerte, zerstören würden? Ein einmaliges Naturwunder wäre dadurch verloren.
Dennoch verminte Ilsor die »Diavona«. An jenem Tag verließen alle Tiere und Vögel die Wälder um Hurrikaps Schloß. Angst vor der Zukunft führte die weißschwänzigen Rene und die schwarzschwänzigen Hasen auf einen gemeinsamen Wildpfad. Neben ihnen schlichen auf leisen Tatzen die Jaguare, die Tigern gleichen, und die Gebirgslöwen, die Pumas. Rotbraune Wölfe mit prächtigen Mähnen folgten Riesenbären mit schwarzem dichtem Fell und weißen Ringen um die Augen, die wie große Brillen aussahen. Schnellfüßig jagten Antilopen dahin. Die Waschbären hingegen ließen sich Zeit, sie blieben an jedem Bach stehen, um im Wasser Beeren oder Nüsse abzuspülen. Weder Zähnefletschen noch bösartiges Knurren war zu hören. Während der Umsiedlung wurden alle zu freundlichen Nachbarn. Auch die Vögel verließen in Vorahnung eines Unglücks ihre Wälder. Vögeln und Tieren folgten die Menschen. Nur Eulen und Uhus, die nächtlichen Räuber, ließen sich von der allgemeinen Aufregung nicht anstecken und blieben in ihren Nestern.
Die unerwartete Umsiedlung blieb den Fremdlingen nicht lange verborgen. Als sie die verlassenen Wälder und Dörfer in der Umgebung des Schlosses bemerkten, wurden sie unruhig. Sie kamen sich plötzlich vor wie auf einem sinkenden Schiff, das alle Lebewesen verlassen hatten. Weshalb suchten alle ihre Rettung in der Flucht? Spürten sie etwa eine nahende Naturkatastrophe – den Ausbruch eines Vulkans oder ein Erdbeben? Man mußte achtgeben, um in diesem unbekannten Land zu überleben.
Die Arbeiten unter der Erde wurden indes mit unvermindertem Tempo fortgesetzt. Endlich kam der Augenblick, da die Wasserleitung, durch die das Schlafwasser in den Brunnen fließen sollte, angeschlossen wurde. Die Feldmäuse, die einen sehr feinen Geruchssinn besitzen, bestanden darauf, in Käfigen in den Brunnen hinabgelassen zu werden. Jetzt blieb nur eins: Man mußte abwarten. Wenn das Schlafwasser in den Brunnen floß, würden die Mäuse einschlafen.
Die Flüchtlinge fanden Aufnahme im Gelben Land, den Besitzungen der gütigen Fee Willina. Ob die Auswanderer jemals in ihre Heimat zurückkehren könnten, oder für immer in der Fremde leben müßten, hing nun einzig und allein von den Mäusen ab.
DIE MÄUSE SIND EINGESCHLAFEN!
Es geschah in der Nacht. Keiner hatte bemerkt, wie sich Tim heimlich zum Brunnen gestohlen hatte. Er legte das Ohr an die Brunnenwand, konnte jedoch nichts hören. Endlich vernahm er ein schwaches Pfeifen.
Tim überlegte: Ob die Mäuse im Schlaf pfeifen? Schnell zog er am Strick einen Käfig hoch, dann einen zweiten. Der Knabe hatte sehr gute Augen. Er sah sogar im Dunkeln, daß die Tierchen in den Käfigen lagen, hilflos die Pfötchen ausgestreckt. So schnell ihn seine Füße trugen, rannte er in die unterirdische Höhle und rief:
»Sie schlafen, sie schlafen! Sie sind endlich eingeschlafen! Das Wasser fließt!«
Rushero befand sich gerade in der Nähe. Der Meister eilte zu Tim und nahm ihm behutsam die Käfige ab. Er kitzelte die Mäuse mit einem Grashalm an den Nasenspitzen, zog sie an den Schwänzchen und an den Pfötchen. Doch die grauen Tierchen erwachten nicht. Rushero hatte seinerzeit die unterirdischen Könige eingeschläfert, deshalb erkannte er sofort, daß die Mäuse in keinen gewöhnlichen, sondern in einen Zauberschlaf gesunken waren.
Diese Nachricht, von der vielleicht die Existenz des Zauberlandes abhing, ließ sich in vier Worte fassen:
»Die Mäuse sind eingeschlafen!«
Rushero wollte die Meldung auf dem gewohnten Weg mit einer Vogelstafette in die Smaragdenstadt durchgeben, doch in den Wäldern war weit und breit kein Vogel mehr zu finden. Zum Glück erblickte er an einem Bach die Eule Guamoko. Die erkannte sofort die Bedeutung dieser Nachricht und meldete sie unverzüglich Kaggi-Karr. Als Guamoko in der Smaragdenstadt auftauchte, brachte der Scheuch alle Einwohner auf die Beine. Faramant, Din Gior, Ann, Tim, Kaggi-Karr, alle liefen durch die Straßen, klopften an die Haustüren – selbst Guamoko mit ihrem kräftigen alten Schnabel tat mit – und verbreiteten die Kunde:
»Die Mäuse sind eingeschlafen!«
Die Einwohner wußten bereits, was das bedeutete. In der Smaragdenstadt lebten kleine vertrauensselige Menschen, die von ganzem Herzen wünschten, daß die Fremdlinge heimwärts zögen. Deshalb hätten sie den Menviten um nichts in der Welt die Wahrheit über das Schlafwasser verraten. Doch die Zeit drängte. Noch war das Sternschiff vermint. Ilsor mußte die Bombe entfernen oder zumindest entschärfen. Vorerst aber mußte man dem Führer der Arsaken mitteilen, daß »die Mäuse eingeschlafen sind«.
Der Weg zu Ilsor war nicht weit, aber gefährlich. Deshalb schickte man nicht nur einen Läufer, dem unterwegs ja etwas zustoßen konnte, sondern sandte den Eisernen Ritter, den Drachen Oicho und sieben hölzerne Läufer aus.
Tilli-Willi stürmte die Gelbe Backsteinstraße entlang. In seiner Kabine saß Faramant und stöhnte vor Schmerz bei jedem Sprung. Er war schließlich nicht Lestar, der in den vielen Jahren seiner Freundschaft mit dem Riesen an solche Reisen gewöhnt war. Unter Willis eisernen Sohlen bildeten sich tiefe Schlaglöcher in der Straße. Doch was tat das schon? Schlaglöcher lassen sich reparieren. Hauptsache, man kam nicht zu spät.
Munter trällerte Tilli-Willi vor sich hin:
»Die Mäuse sind eingeschlafen. Ich schwöre es bei den Riffen. Die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen. Ich schwöre es bei der Ebbe… Die Mäuse sind eingeschla-fen!…«
Der Drache Oicho flog über Wälder und Felder. Auf seinem Rücken hatte der Dreimalweise Scheuch persönlich Platz genommen.
Ja, der Herrscher der Smaragdenstadt hatte Thron, Untertanen und Freunde verlassen. Er wollte das Zauberland, seine Felder und Wälder, vor allem aber seine Bewohner retten.
Der Scheuch sprang auf dem Rücken des Drachen im Takt des Schwingenschlags auf und nieder und sang vor sich hin:
»Heiho, heiho, die Mäuse sind eingeschlafen. Die Mäuse sind eingeschlafen, ein-ge-schla-fen!«
Bisweilen blickte er hinab, und wenn Tilli-Willi ein wenig zurückblieb, so richtete er sich siegesgewiß auf. Wenn der Ritter jedoch voraus war, zappelte der Scheuch ungeduldig und trieb Oicho an, schneller zu fliegen. Da ließ sich nichts machen. Der gütige Scheuch war halt sehr ehrgeizig.
Auf Wildpfaden folgten die hölzernen Läufer dem Ritter. Sie machten nicht so große Schritte wie Tilli-Willi, dafür bewegten sich ihre Beine flink wie Fahrradspeichen, und ihre hölzernen Körper erinnerten an Masten, die durch die Luft zu schwingen schienen.
Man hatte ihnen aufgetragen, die Worte der Meldung ständig zu wiederholen, um sie nicht zu vergessen. Deshalb plapperten sie ununterbrochen:
»Die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen!…«
Der Wettlauf spornte die Läufer an, und einer suchte den anderen zu überholen. Wenn es einem von ihnen gelang, davonzuziehen, hänselte er die anderen:
»Schnecken! Schildkrötenkinder! Schwanzlose Krebse!«
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