Belastung... offensichtliche Belastung... offensichtlich unmöglich.
Aber war es wirklich so unmöglich?... Edwina hatte plötzlich eine Idee.
Die Uhr an der Wand zeigte 14.10 Uhr. Sie bemerkte, daß der Innenleiter an seinem Schreibtisch saß. Edwina stand auf. »Mr. Tottenhoe, würden Sie bitte mal mitkommen?«
Verdrossen trottete Tottenhoe hinter ihr her, als sie den großen Schalterraum durchquerte, hier und da kurz einen Kunden begrüßend. Es herrschte reger Betrieb, es waren viele Menschen in dem Raum, wie üblich während der letzten Schalterstunden vor einem Wochenende. Juanita Nünez nahm gerade eine Einzahlung entgegen.
Edwina sagte mit ruhiger Stimme: »Mrs. Nünez, wenn Sie diesen Kunden bedient haben, stellen Sie bitte das Schild >Schalter geschlossen auf und verschließen Sie dann Ihr Geldfach.«
Juanita reagierte nicht, sie sagte auch nichts, als sie die Transaktion beendet und das kleine Metallschild in ihr Schalterfenster gestellt hatte. Als sie sich zur Seite wandte, um das Geldfach abzuschließen, sah Edwina, warum sie nichts sagte. Juanita weinte lautlos, Tränen liefen ihr über die Wangen.
Der Grund war nicht schwer zu erraten. Sie hatte an diesem Tag mit ihrer Entlassung gerechnet, und Edwinas plötzliches Auftauchen hatte ihr die Gewißheit gebracht.
Edwina ignorierte die Tränen. »Mr. Tottenhoe«, sagte sie, »stimmt es, daß Mrs. Nünez seit Beginn der Schalterstunden heute früh Bargeld eingenommen und ausgezahlt hat?«
Er nickte. »Ja.«
Die Zeitspanne war ungefähr die gleiche wie am Mittwoch, dachte Edwina; allerdings hatte heute mehr Betrieb in der Filiale geherrscht.
Sie zeigte auf das Geldfach. »Mrs. Nünez, Sie haben behauptet, daß Sie jederzeit genau wissen, wieviel Bargeld sie haben. Wissen Sie, wieviel Geld jetzt in dem Fach ist?«
Die junge Frau zögerte. Dann nickte sie; sprechen konnte sie wegen der Tränen noch immer nicht.
Edwina nahm einen Zettel vom Schaltertisch und hielt ihn ihr hin. »Schreiben Sie die Summe darauf.«
Wieder sichtliches Zögern. Dann nahm Juanita Nunez einen Bleistift und kritzelte 23765 Dollar.
Edwina gab Tottenhoe den Zettel. »Bitte begleiten Sie Mrs. Nunez und bleiben Sie bei ihr, während sie ihren heutigen Bargeldbestand durchrechnet. Kontrollieren Sie das Ergebnis. Vergleichen Sie es mit dieser Zahl.«
Skeptisch betrachtete Tottenhoe den Zettel. »Ich hab' zu tun, und wenn ich bei jedem einzelnen Kassierer bleiben wollte... «
»Bleiben Sie bei dieser Kassiererin«, sagte Edwina und ging durch die Schalterhalle zu ihrem Platz zurück.
Drei Viertelstunden später erschien Tottenhoe neben ihrem Schreibtisch.
Er machte einen nervösen Eindruck. Edwina bemerkte, daß die Hand zitterte, mit der er ihr den Zettel hinlegte. Die Zahl, die Juanita Nunez darauf geschrieben hatte, war mit einem Bleistift abgehakt.
»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte«, sagte der Innenleiter, »dann hätte ich es wahrscheinlich nicht geglaubt.« Zum ersten Mal seit langer Zeit verriet seine Miene nicht die gewohnte Niedergeschlagenheit, sondern Erstaunen.
»Die Zahl hat gestimmt?«
»Sie hat genau gestimmt.«
Edwina saß angespannt da und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Mit einem Schlage, das wußte sie, hatte sich fast der gesamte Stand der Untersuchung verändert. Bis zu diesem Augenblick war man fast immer von der Annahme ausgegangen, daß Mrs. Nunez unmöglich habe fertigbringen können, was sie soeben überzeugend und schlüssig vorgeführt hatte.
»Mir ist etwas eingefallen, als ich eben auf dem Weg zu Ihnen war«, sagte Tottenhoe. »Ich habe mal jemanden gekannt, das war in einer kleinen Filiale auf dem Lande im Norden - muß zwanzig Jahre her sein oder länger -, der konnte beim Schalterdienst den ganzen Tag lang im Kopf mitrechnen. Und jetzt erinnere ich mich, von anderen Leuten gehört zu haben, die das auch können. Das ist, als ob die eine Rechenmaschine im Kopf hätten.«
Edwina sagte scharf: »Mir wäre es lieber gewesen, wenn Ihre Erinnerung schon am Mittwoch so gut funktioniert hätte.«
Tottenhoe kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, Edwina zog einen Schreibblock heraus und kritzelte Zusammenfassungen von dem, was ihr jetzt durch den Kopf ging.
Nünez noch nicht entlastet, aber glaubwürdiger. Vielleicht schuldlos verdächtigt?
Wenn Nünez nicht, wer dann?
Jemand, der den Arbeitsablauf kennt, der nach günstiger Gelegenheit Ausschau halten kann.
Angestellter? Jemand aus dieser Filiale?
Aber wie?
» Wie« später. Erst Motiv finden, dann Person.
Motiv? Jemand, der dringend Geld braucht?
Sie wiederholte in Blockbuchstaben: BRAUCHT GELD. Und sie fügte hinzu: Persönliche Giro-/Sparkonten kontrollieren, gesamtes Personal der Filiale - HEUTE ABEND!
Freitagnachmittag blieben alle Filialen der First Mercantile American drei Stunden länger als gewöhnlich geöffnet.
So schloß an diesem Freitag ein bewaffneter Sicherheitsbeamter das Straßenportal der Hauptfiliale um 18.00 Uhr zu. Ein paar Kunden, die sich im Augenblick des Schalterschlusses noch in der Bank befunden hatten, wurden von demselben Wächter einzeln durch eine Panzerglastür hinausgelassen.
Genau um 18.05 Uhr klopfte es ein paar Mal nacheinander scharf von außen an diese Glastür. Als sich der Wächter verwundert umdrehte, sah er die Gestalt eines jung wirkenden Mannes, der einen schwarzen Mantel und einen dunklen Anzug darunter trug. In der Hand hatte er eine Aktentasche. Um gleich gehört zu werden, hatte er ein in ein Taschentuch gewickeltes 50-Cent-Stück als Klopfer benutzt.
Als der Wächter näher kam, drückte der Mann mit der Aktentasche einen Ausweis flach an die Scheibe. Der Wächter prüfte den Ausweis, schloß dann die Tür auf, und der junge Mann betrat die Filiale.
Bevor der Wächter die Tür wieder schließen konnte, geschah etwas, das so verblüffend und erstaunlich war wie ein glänzend einstudierter Zaubertrick. Wo ein Mann mit Aktentasche gestanden und seinen Ausweis präsentiert hatte, da standen plötzlich sechs, und hinter ihnen weitere sechs, wiederum gefolgt von einer anderen Phalanx. Geschwind wie eine Flutwelle strömten sie in die Bank.
Ein Mann, älter als die meisten anderen und Autorität ausstrahlend, sagte kurz: »Revisionsstab der Hauptverwaltung.«
»Yessir«, sagte der bewaffnete Wächter; er war ein alter Bankhase, der das alles schon einmal mitgemacht hatte, und er ließ die anderen Ausweisinhaber Mann für Mann herein. Zwanzig waren es insgesamt, meistens Männer, aber auch vier Frauen waren dabei. Alle begaben sich unverzüglich zu bestimmten Punkten innerhalb der Bank.
Der ältere Mann, der an der Tür gesprochen hatte, steuerte auf Edwinas Schreibtisch zu. Als sie sich erhob, um ihn zu begrüßen, betrachtete sie den Strom der Hereinkommenden mit unverhohlener Überraschung.
»Mr. Burnside, soll das eine Groß-Revision werden?«
»Allerdings, Mrs. D'Orsey.« Der Chef der Revision zog seinen Mantel aus und hängte ihn in der Nähe der Plattform an einen Haken.
Die Angestellten in den verschiedenen Abteilungen der Bank zogen ein saures Gesicht; resignierte Bemerkungen wurden hörbar. »Ausgerechnet Freitag abend!« ... »Verdammt, ich bin zum Essen verabredet!« ... »Wer sagt, daß Revisoren auch Menschen sind?«
Die meisten wußten, was der Besuch einer Revisorengruppe bedeutete. Kassierer wußten, daß ihr Bargeld, ebenso wie die Bar-Reserve im Tresorraum, noch ein weiteres Mal nachgezählt werden würde, bevor sie endlich gehen konnten. Buchhalter würden bleiben müssen, bis ihre sämtlichen Eintragungen abgehakt waren, und die leitenden Angestellten der Filiale würden sich glücklich preisen können, wenn sie bis Mitternacht mit allem fertig waren.
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