Der Fall, Keri! Du musst dich jetzt auf den Fall konzentrieren!
Sie überlegte, ob sie Detective Edgerton anrufen sollte, der Kendras letzten GPS-Daten überprüfte. Vielleicht hatte er inzwischen etwas herausgefunden.
Auch wenn sie diese Informationen dringend brauchten, gefiel es ihr nicht, dass seine Arbeit an Pachangas Rechner davon unterbrochen wurde. Als sie zum ersten Mal Zugang zu seinen Dateien bekommen hatten, hatte Keri sich sehr gefreut, endlich mehr über das Netzwerk der Kindesentführer herausfinden zu können, doch die Freude war schnell in Frust umgeschlagen, als sich herausstellte, dass jede einzelne Datei zusätzlich verschlüsselt war.
Keri war sich sicher, dass sie den Schlüssel bei einem ganz anderen finden würde – bei Pachangas Anwalt Jackson Cave. Heute würde sie Cave einen Besuch abstatten, auch wenn sie sich eigentlich auf den neuen Fall konzentrieren musste.
Gerade als sie diesen Beschluss gefasst hatte, erreichte Keri Becky Sampsons Haus.
Cave muss warten. Kendra Burlingame braucht mich jetzt. Reiss‘ dich zusammen, Keri!
Sie stieg aus dem Wagen aus und musterte die Nachbarschaft, während sie zum Eingang ging. Becky Sampson wohnte in einem dreistöckigen Wohnkomplex, das sich in die Reihe der übertrieben verzierten Gebäude im North Stanley Drive bestens einfügte.
Dieser Teil von Beverly Hills, südlich von Cedars-Sinai und Burton Way und westlich des Robertson Boulevards, gehörte technisch gesehen zwar noch zu Beverly Hills, doch er war umgeben von den Gewerbegebieten und Ausläufern der Stadt Los Angeles, weswegen die Miete dort um einiges erschwinglicher war. Dennoch rissen sich die Leute um Wohnungen und Häuser hier, schließlich lautete die Adresse auf Beverly Hills.
Keri klingelte und wurde sofort ins Haus gelassen. Ihr wurde schnell klar, dass die Postleitzahl den größten Reiz dieser Gegend ausmachte. Als sie auf den Aufzug zuging, fiel ihr der dicke, abgelaufene Teppich und die rosafarbenen Wände auf, die einen neuen Anstrich gut gebrauchen konnten. Auch der abgestandene Geruch wirkte wenig anziehend auf sie.
Im Aufzug roch es, als hätte es den einen oder anderen Vorfall mit gewissen Verdauungssäften gegeben, was sich nun nicht mehr vertuschen ließ. Er fuhr stotternd hinauf in den dritten Stock, wo sich seine Türen wackelnd öffneten. Keri stieg aus und schwor sich, auf dem Rückweg die Treppen zu nehmen, auch wenn das für ihre gebrochenen Rippen vielleicht nicht die beste Wahl war.
Sie klopfte an Appartement Nummer 323, löste die Lasche an ihrem Pistolengürtel und wartete. Sie hörte, wie ein Haufen Geschirr unsanft in einem Spülbecken voller Wasser abgeladen, und ein paar herumliegende Dinge mit einem dumpfen Knall in einen Schrank geworfen wurden.
Jetzt wirft sie noch einen Blick in den Spiegel neben der Wohnungstür, schaut mich durch den Spion an und öffnet die Tür in drei, zwei, eins…
Keri hörte, wie die Sicherheitskette entfernt wurde. Die Tür öffnete sich und eine dünne, verbittert aussehende Frau erschien. Sie musste so alt wie Kendra Burlingame sein, wenn sie zusammen zu diesem Klassentreffen gegangen waren, aber sie sah um die zehn Jahre älter aus. Ihr Haar war Mausgrau, die spröden Spitzen verrieten, dass sie vor einiger Zeit gefärbt worden waren, und ihre braunen Augen waren ebenso rot unterlaufen, wie Keris eigene Augen manchmal aussahen, wenn sie zu wenig Schlaf bekommen hatte. Das Attribut, das Keri sofort in den Sinn kam, war schreckhaft .
„Becky Sampson?“, fragte Keri aus Routine, auch wenn sie die Frau aufgrund des Führerscheinlichtbildes, das ihr unterwegs zugeschickt worden war, zweifelsfrei identifizieren konnte. Ihre rechte Hand lag noch immer auf dem Pistolengürtel.
„Ja. Detecive Locke? Kommen Sie bitte herein.“
Keri trat ein, achtete aber darauf, immer einen angemessenen Abstand zu Becky Sampson zu bewahren. Auch die unscheinbarsten Bewohner des sagenumwobenen Beverly Hills konnten einem Ärger machen, wenn man sich nicht vorsah. Die Luft in der Wohnung war muffig, so dass Keri sich zusammenreißen musste, um nicht die Hand vor die Nase zu halten.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, fragte Becky.
„Vielen Dank, ein Glas Wasser wäre wunderbar“, sagte Keri, nicht weil sie durstig war, sondern weil es ihr die Gelegenheit gab, sich etwas genauer umzusehen, während die Gastgeberin in der Küche verschwand.
Die geschlossenen Fenster und Gardinen wirkten erdrückend auf Keri. Überall schien eine Staubschicht zu liegen, von den Beistelltischen, über das Bücherregal bis hin zur Couch. Keri betrat das Wohnzimmer und stellte fest, dass sie sich geirrt hatte.
Der Kaffeetisch zeigte kein einziges Staubkörnchen, als wäre er in ständigem Gebrauch. Auf dem Boden vor dem Tisch bemerkte Keri weiße Flecken. Sie kniete sich hin und ignorierte dabei den stechenden Schmerz in ihrer Brust. Es schien eine Art weißen Pulver zu sein und unter dem Tisch entdeckte sie einen zusammengerollten Schein, der ebenfalls Reste des Pulvers aufwies. Sie hörte, dass der Wasserhahn in der Küche abgedreht wurde und richtete sich schnell auf, bevor Becky Sampson mit zwei Gläsern Wasser den Raum betrat.
Sie sah erstaunt aus, dass ihr Gast sich so weit vom Eingang entfernt hatte und warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, bevor sie unwillkürlich auf die weiße Stelle am Boden schielte.
„Darf ich mich setzen?“, fragte Keri höflich. „Ich habe eine gebrochene Rippe und kann daher nicht allzu lange stehen.“
„Bitte“, sagte die Frau beschwichtigend und wies auf die Couch. „Wie ist es denn passiert?“
„Ein Kindesentführer hat mich verprügelt.“
Becky Sampsons Augen weiteten sich erschrocken.
„Keine Sorge, ich habe ihn erschossen“, erklärte Keri.
Jetzt war Keri sicher, dass ihr Gegenüber überrascht war. Es war Zeit, loszulegen.
„Also, ich habe Ihnen ja bereits am Telefon gesagt, dass ich mit Ihnen über Kendra Burlingame reden muss. Sie wird vermisst. Haben Sie eine Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte?“
Becky Sampsons Augen wurden noch größer, sofern das überhaupt noch möglich war.
„Was?“
„Seit gestern früh hat keiner mehr von ihr gehört. Wann haben Sie sie zuletzt gesprochen?“
Becky wollte gerade antworten, als sie plötzlich zu husten begann. Der Anfall dauerte ein paar Sekunden. Dann begann sie zu reden.
„Samstagnachmittag waren wir zusammen einkaufen. Sie wollte sich ein neues Kleid für die Gala heute Abend kaufen. Sind Sie ganz sicher, dass sie verschwunden ist?“
„Wir sind sicher. Wie haben Sie sie am Samstag wahrgenommen? Kam sie Ihnen irgendwie beunruhigt vor?“
„Eigentlich nicht“, antwortete Becky. Sie nahm ein Taschentuch und putzte ihre Nase. „Soweit ich weiß gab es ein paar kleine Schwierigkeiten mit dem Catering für die Gala, aber es war nichts, das sie nicht schon hundertmal erlebt hatte. Sie schien nicht besonders beunruhigt deswegen.“
„Wie war es für Sie, mit anzuhören, wie sie all diese wichtigen Telefonate für die große Gala führte und ein weiteres teures Kleid kaufte?“
„Wie meinen Sie das?“
„Sie sind doch ihre beste Freundin, oder?“
Becky nickte. „Seit fast fünfundzwanzig Jahren“, bestätigte sie.
„Sie wohnt in diesem Schloss auf den Hügeln und Sie wohnen in einer kleinen Einzimmer-Wohnung. Da könnte man doch neidisch werden, oder nicht?“
Keri beobachtete Becky Sampsons Reaktion genau. Sie nahm einen Schluck Wasser, bevor sie antwortete, doch sie begann wieder zu husten, als hätte sie sich verschluckt.
„Nun, manchmal bin ich schon ein bisschen neidisch, das muss ich zugeben. Aber es ist schließlich nicht Kendras Schuld, dass es das Schicksal mit mir nicht so gute gemeint hat, wie mit ihr. Ehrlich gesagt, kann man ihr gar nicht böse sein. Sie ist der netteste Mensch, der mir je begegnet ist. Und glauben Sie mir, mir sind schon so einige… andere Menschen begegnet. Kendra war immer für mich da, wenn ich ein Problem hatte.“
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