Keri konnte sich vorstellen, welcher Art diese Probleme waren, aber sie sagte nichts. Becky redete weiter.
„Außerdem ist sie sehr großzügig ohne überheblich zu sein. Das muss für sie manchmal ein ziemlicher Drahtseilakt sein. Sie hat mir übrigens auch das Kleid gekauft, das ich heute Abend auf der Gala tragen werde. Vorausgesetzt, dass sie trotzdem stattfindet. Wissen Sie etwas darüber?“
„Leider nein“, antwortete Keri knapp. „Erzählen Sie mir etwas über ihre Ehe mit Jeremy. Wie würden Sie die Beziehung beschreiben?“
„Gut. Sie sind großartige Partner, ein ausgezeichnetes Team.“
„Das klingt nicht besonders romantisch. Ist es eine Ehe oder ein Bündnis?“
„Ich hatte nie den Eindruck, dass sie ein besonders leidenschaftliches Paar sind. Jeremy ist eher ein sachlicher Typ und Kendra hat ihre wilde Phase ausgelebt, als sie in ihren Zwanzigern war. Ich habe das Gefühl, dass sie froh war, eine stabile, zuverlässige Beziehung zu haben. Ich weiß, dass sie ihn liebt. Aber sie sind nicht direkt Romeo und Julia, wenn sie das meinen.“
„Hat sie sich je nach mehr Leidenschaft gesehnt? Hat sie vielleicht danach gesucht, sagen wir auf diesem Klassentreffen?“
„Warum fragen Sie das?“
„Jeremy hat ausgesagt, dass sie nach dem Klassentreffen mit Ihnen irgendwie durcheinander wirkte.“
„Ach das“, sagte Becky und schniefte wieder, bevor sie einen weiten Hustenanfall bekam.
Während sie sich bemühte, ihn unter Kontrolle zu bringen, bemerkte Keri eine Kakerlake auf dem Boden. Sie ignorierte sie und hörte zu, was Becky zu sagen hatte.
„Glauben Sie mir, sie hat sich absolut korrekt verhalten. Einer ihrer Exfreunde, Coy Brenner, hat immer wieder versucht, sich an sie heran zu machen. Sie wies ihn freundlich ab, aber er war ziemlich hartnäckig.“
„Inwiefern?“
„Es war ihr offensichtlich unangenehm. Sie waren in der wilden Zeit zusammen, von der ich vorhin gesprochen habe. Er hat ihr nein einfach nicht akzeptiert. Am Ende hat er etwas gesagt, wie ‚Er wird sie bald wieder sehen“, oder so etwas. Ich glaube, das hat sie ziemlich verunsichert.“
„Wohnt er in der Gegend?“
„Er hat lange in Phoenix gelebt. Dort war auch das Klassentreffen. Wir sind dort groß geworden. Aber er hat auch erwähnt, dass er vor kurzem nach San Pedro gezogen ist, dass er dort am Hafen arbeitet.“
„Wie lange ist das Klassentreffen her?“
„Zwei Wochen“, sagte Becky. „Denken Sie, dass er etwas damit zu tun hat?“
„Ich weiß es nicht, aber wir werden ihn überprüfen. Wo kann ich Sie finden, wenn ich mit Ihnen in Kontakt treten muss?“
„Ich arbeite bei einer Casting-Agentur in Robertson, gegenüber von The Ivy. Es ist nicht weit von hier. Aber ich habe mein Handy immer bei mir. Rufen Sie einfach an, wenn Sie mich erreichen möchten. Kendra ist wie eine Schwester für mich, bitte lassen Sie es mich wissen, wenn ich irgendwie helfen kann.“
Keri sah sie lange an und überlegte, ob sie ansprechen sollte, was auf der Hand lag. Das ständige Schniefen und Husten, das weiße Puder, der zusammengerollte Schein – all das wies stark daraufhin, dass diese Frau ein Drogenproblem hatte.
„Vielen Dank für Ihre Zeit“, sagte sie schließlich. Noch würde sie sie nicht darauf ansprechen.
Vielleicht würde sich Beckys Problem noch als nützlich erweisen, daher wollte sie sie fürs Erste in Ruhe lassen.
Keri verließ die Wohnung und ging trotz der Schmerzen in Schulter und Brust die Treppen hinunter zum Erdgeschoss.
Es gefiel ihr eigentlich nicht, Beckys Drogensucht als potenzielles Ass gegen sie zu behalten, aber das schlechte Gewissen verflüchtigte sich schnell, als sie vor die Tür trat und tief Luft holte. Sie war eine Polizistin, keine Therapeutin. Alles, was helfen würde, einen Fall zu lösen, musste genutzt werden.
Als sie losfuhr, rief sie über die Freisprechanlage auf dem Revier an. Sie brauchte möglichst viele Informationen über Kendras penetranten Exfreund, Coy Brenner.
Sie beschloss, ihm einen kleinen Besuch abzustatten.
Keri versuchte ruhig zu bleiben, während ihr Blutdruck langsam stieg. Sie fuhr Richtung Süden auf der auf 110 zum Hafen von Los Angeles in San Pedro. Der Feierabendverkehr wurde immer dichter. Es war nach vier Uhr und sie kam trotz der Sirene nur schleppend voran.
Schließlich fuhr sie vom Highway ab und folgte dem gewundenen Straßenverlauf, bis sie bei einem Verwaltungsgebäude in der Palos Verdes Street ankam. Dort sollte sie ein paar Kollegen von der Hafenpolizei treffen, die mit ihr Brenner befragen sollten. Die Hafenpolizei musste konsultiert werden, da sie sich in ihrem Revier befand.
Normalerweise scherte Keri sich nicht um solche bürokratischen Regelungen, aber heute hatte sie nichts gegen ein bisschen Unterstützung einzuwenden. Eigentlich war sie im Umgang mit möglichen Verdächtigen sehr selbstbewusst. Sie war in Krav Maga, einer besonderen Selbstverteidigungstechnik, ausgebildet und Ray hatte ihr sogar ein paar Boxstunden gegeben. Aber mit ihrer angeknacksten Schulter und den gebrochenen Rippen fühlte sie sich nicht so stark wie sonst und sie wusste nicht genau, was sie bei Brenner erwartete.
Von Detective Manny Suarez hatte sie unterwegs per Telefon erfahren, dass Brenner scheinbar kein einfacher Mensch war. Er war in den vergangenen Jahren mehrfach verhaftet worden: Alkohol am Steuer, Diebstahl, tätlicher Übergriff mit Körperverletzung und sogar Betrug, weswegen er sechs Monate hinter Gitter verbracht hatte. Das war vor vier Jahren, und da er eigentlich fünf Jahre lang den Bundesstaat nicht verlassen durfte, hatte er technisch gesehen gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen.
Jetzt arbeitete er hier im Hafen von San Pedro. Laut Becky Sampson hatte er behauptet, erst vor kurzem hierher gezogen zu sein, doch die Akten zeigten, dass er bereits seit über drei Monaten in einer Wohnung in Long Beach wohnte.
Als Keri eintraf, wartete Sergeant Mike Covey von der Hafenpolizei bereits mit zwei weiteren Beamten auf sie. Covey war Mitte vierzig, groß, schlank und glatzköpfig. Er strahlte Autorität aus. Sie hatte ihm telefonisch über ihre Ermittlungen informiert und er hatte die Informationen scheinbar bereits an seine Männer weitergegeben.
„Brenners Schicht endet um vier Uhr dreißig“, verkündete Covey, nachdem sie Hände geschüttelt hatten. „Da es bereits nach vier ist, habe ich den Pier-Manager gebeten, die Crew heute nicht früher gehen zu lassen.“
„Sehr gut. Dann sollten wir uns am besten direkt auf den Weg machen. Ich möchte ihn kurz in seiner vertrauten Umgebung sehen, bevor ich mit der Befragung beginne.“
„Einverstanden. Vielleicht sollten wir mit Ihrem Wagen fahren, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen. Kuntsler und Rodriguez können im Dienstwagen nachkommen. Wir fahren in dieser Gegend regelmäßig Patrouille, der Wagen an sich wird nicht weiter auffallen. Es wäre etwas anderes, wenn sie eine fremde Person aus dem Wagen steigen sehen.“
„Alles klar“, bestätigte Keri und war erleichtert, dass sie mit kompetenten Männern zusammenarbeiten durfte, die ebenfalls keine großen Wellen schlagen wollten. Ihr Chef hasste schlechte Publicity, je diskreter die Polizei arbeitete, desto besser.
Keri folgte Sergeant Coveys Anweisungen gemäß über die Vincent Thomas Brücke zum Besucherparkplatz von Pier 400. Die Fahrt dauerte länger, als Keri angenommen hatte. Sie erreichten ihr Ziel erst um 4 Uhr 28.
Covey informierte den Pier-Manager über Funk, dass er die Crew jetzt entlassen konnte.
„Brenner müsste jeden Moment hier vorbei kommen“, sagte er zu Keri. Der Dienstwagen der Hafenpolizei fuhr an ihnen vorbei und drehte eine langsame, große Runde. Keiner beachtete sie.
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