Keri sah sich im Raum um. Er war außergewöhnlich groß, größer als ihr gesamtes Hausboot. Das riesige Ehebett war ordentlich gemacht. Ein leichter, hauchdünner Himmel ließ das Bett wirken wie eine Wolke. Durch die weit offenstehenden Türen konnte man den großzügigen Balkon sehen, der einen wunderbaren Blick auf den Pazifischen Ozean bot.
Ein überdimensionaler Flachbildfernseher hing gegenüber dem Bett an der Wand. Die andere Wand war mit geschmackvollen Gemälden und Fotos von dem glücklichen Paar dekoriert. Keri ging etwas näher heran.
Sie sah sich ein Foto an, auf dem sie an einem tropischen Ort im Urlaub waren. Im Hintergrund war das Meer zu sehen.
Jeremy trug darauf ein lockeres, pinkfarbenes Hemd mit karierten Shorts. Er lächelte gestellt und etwas unbeholfen in die Kamera, wie man es oft bei Männern sieht, die nicht gern fotografiert werden.
Kendra Burlingame trug ein türkisfarbenes Sommerkleid mit eleganten, hochhackigen Sandalen, deren Riemchen um ihre Knöchel gewickelt waren. Sie hatte langes, schwarzes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Sie lächelte über das ganze Gesicht, als hätte sie gerade herzlich gelacht. Sie hatte lange, schlanke Beine und war genauso groß wie ihr Gatte, der seinen Arm locker um ihre Hüfte gelegt hatte. Ihre blauen Augen hatten dieselbe Farbe wie das Meer hinter ihr. Sie war wirklich eine ausgesprochen hübsche Frau.
„Dann haben Sie Ihre Frau wann genau zuletzt gesehen?“, fragte sie noch einmal. Burlingame stand hinter ihr, doch sie konnte sein Spiegelbild im Bilderrahmen beobachten.
„Gestern früh, genau hier“, sagte er. Er sah wirklich besorgt aus. „Wegen des Termins in San Diego musste ich früher los als sonst. Ich musste bei einem komplizierten Eingriff anwesend sein. Es war noch vor sieben Uhr; sie war noch im Bett, also habe ich ihr nur einen Abschiedskuss auf die Stirn gegeben.“
„War sie wach?“, fragte Brody.
„Ja, sie hatte den Fernseher an. Sie hat sich gerade den Wetterbericht angesehen, wegen der Gala heute Abend.“
„Und seitdem haben Sie sie nicht mehr gesehen?“, fragte Keri zum dritten Mal.
„Ja, Detective“, entgegnete er und klang zum ersten Mal leicht gereizt. „Das habe ich doch inzwischen mehrfach bestätigt. Darf ich Ihnen vielleicht auch eine Frage stellen?“
„Natürlich.“
„Ich weiß, dass Sie alles Schritt für Schritt untersuchen müssen, aber könnten Sie vielleicht veranlassen, dass Kendras Auto und Handy geortet werden? Vielleicht kann ich sie so finden.“
Keri hatte diese Frage erwartet. Hillman hatte den technischen Dienst natürlich längst damit beauftragt, aber diese Information hatte sie bisher zurückgehalten. Sie war gespannt, wie er darauf reagieren würde.
„Das ist eine sehr gute Idee, Dr. Burlingame“, sagte sie. „Deswegen haben wir es bereits überprüft.“
„Was haben Sie herausgefunden?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Nichts.“
„Nichts? Wie soll ich das verstehen?“
„Vermutlich wurde sowohl im Bordcomputer des Autos, als auch auf dem Handy Ihrer Frau das GPS-Signal deaktiviert“, sagte Keri und beobachtete ihn genau.
Er starrte sie erstaunt an.
„Deaktiviert? Wie ist das möglich?“
„Jemand muss es absichtlich deaktivieret haben, damit man weder das Auto noch das Telefon orten kann.“
„Bedeutet das, dass jemand beides manipuliert und sie entführt hat?“
„Das wäre denkbar“, mischte Brody sich ein. „Oder aber sie ist diejenige, die nicht gefunden werden möchte.“
Burlingame sah jetzt nicht mehr erstaunt aus, sondern ungläubig.
„Wollen Sie mir damit sagen, dass meine Frau mich verlassen hat und nicht gefunden werden will?“
„Sie wäre bestimmt nicht die erste“, sagte Brody.
„Nein, das ergibt einfach keinen Sinn. Kendra würde das nicht machen. Sie hat auch gar keinen Grund dazu. Wir führen eine hervorragende Ehe. Wir lieben uns, und sie liebt ihre Arbeit und diese Kinder. Sie würde nicht einfach aufstehen und all das hinter sich lassen. Ich hätte bemerkt, wenn sie unzufrieden gewesen wäre. Ich würde es wissen.“
In Keris Ohren klang es wie ein Flehen, wie ein Mann, der sich selbst überzeugen will. Er wirkte plötzlich schrecklich einsam.
„Sind Sie sich ganz sicher, Dr. Burlingame?“, fragte sie. „Manchmal bewahrt man ein Geheimnis so gut, dass nicht einmal der engste Freund davon weiß. Da wir gerade darüber reden, hat Kenda außer Ihnen noch andere vertraute Personen?“
Burlingame schien sie nicht zu hören. Er setzte sich auf das Bett und schüttelte langsam den Kopf, als könne er so den Zweifel abschütteln.
„Dr. Burlingame?“, fragte Keri sanft.
„ Entschuldigen Sie. Ja. Ihre beste Freundin ist Becky Sampson. Sie kannten sich seit der High School. Sie sind vor ein paar Wochen gemeinsam zu einem Klassentreffen gegangen. Kendra war danach irgendwie durcheinander, aber sie wollte nicht sagen, warum. Becky wohnt in Robertson Street. Vielleicht hat Kendra ihr etwas anvertraut.“
„Sehr gut, wir werden sie kontaktieren“, versicherte Keri. „In der Zwischenzeit werden wir ein Team von der Spurensicherung zu Ihnen schicken, damit sie Ihr Haus genauer unter die Lupe nehmen. Wir beginnen üblicherweise dort, wo die vermisste Person zuletzt gesehen wurde, bevor das GPS-Signal deaktiviert wurde. Haben Sie alles verstanden, Dr. Burlingame?“
Der Mann starrte jetzt ohne jede Regung geradeaus. Als sie seinen Namen sagte, schloss er die Augen einen Moment und sah sie dann lange an.
„ Ja, Spurensicherung, ich verstehe.“
„Wir werden außerdem die Angaben zu Ihrem Aufenthaltsort gestern überprüfen müssen, einschließlich Ihrem Einsatz in San Diego“, erklärte Keri. „Wir werden jeden, mit dem Sie dort in Kontakt waren, kontaktieren müssen.“
„Das gehört zu unseren Aufgaben“, fügte Brody betont diplomatisch hinzu.
„Ich verstehe. Wahrscheinlich wird der Ehemann grundsätzlich verdächtigt, wenn eine Frau verschwindet. Ich werde eine Liste von Leuten und Telefonnummern erstellen, die ich gestern getroffen habe. Brauchen Sie die Liste sofort?“
„Je schneller desto besser“, sagte Keri. Ich möchte nicht unhöflich sein, Doc, aber Sie haben recht – der Ehemann ist zu Beginn immer ein Hauptverdächtiger. Und je schneller wir Sie als Täter ausschließen können, desto schneller können wir uns auf andere Theorien konzentrieren. Ein paar Polizisten werden zu Ihnen kommen und die ganze Umgebung durchsuchen. Jetzt würde ich Sie und Lupe bitten, uns in den Hof zu unseren Fahrzeugen zu begleiten. Dort werden wir gemeinsam warten, bis die Teams eintreffen.“
Burlingame nickte und bewegte sich langsam aus dem Schlafzimmer. Plötzlich hob er den Kopf. „Aus Erfahrung gesprochen, Detective Locke, wie viel Zeit hat sie, wenn sie wirklich entführt wurde? Ich weiß, dass bei solchen Vorfällen die Uhr tickt. Wie viel Zeit hat sie realistisch gesehen?“
Keri sah ihn lange an. Er wirkte kein bisschen hinterlistig, sondern ernsthaft betroffen, als wollte er sich an etwas Rationalem festhalten. Das war eine gute Frage und sie wüsste selbst gerne die Antwort darauf.
Sie rechnete still ein paar Zahlen zusammen, aber das Ergebnis war nicht gut. So offen konnte sie einfach nicht mit dem Mann eines potenziellen Opfers reden. Sie versuchte, ihr Kalkulation vorsichtig in Worte zu fassen.
„Sehen Sie, Dr. Burlingame, ich möchte ehrlich mit Ihnen sein. Jede Sekunde zählt. Aber wir haben vermutlich ein paar Tage, bevor die Spuren verwischen, und wir werden alle Hebel in Bewegung setzen, um Ihre Frau zu finden. Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.“
Tatsächlich sah die Rechnung allerdings um einiges hoffnungsloser aus. Im Normalfall lag das Limit bei zweiundsiebzig Stunden. Wenn sie wirklich gestern Vormittag entführt worden war, hatten sie jetzt noch knappe achtundvierzig Stunden um sie zu finden.
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