1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 „Danke“, sagte Luke.
„Ich lasse Sie jetzt in Ruhe“, sagte Winn. „Viel Glück.“
Als er gegangen war, hielt Luke an, um mit seinen Männern vor der Hütte zu reden. Vor dem Lagerzaun türmten sich grüne Berge um sie herum auf. Das Lager schien sich in einem Talkessel zu befinden.
„Swann, wie viele Jahre warst du in China?“
„Sechs.“
„In welchem Teil?“
„Überall. Ich habe hauptsächlich in Peking gelebt, aber ich habe auch Zeit in Shanghai und Chongqing verbracht, auch ein wenig im Süden, in Guangzhou und Hongkong.“
„Okay, ich möchte, dass du den Kerl genau beobachtest und herausfindest, was du nur kannst. Egal was. Woher er kommen könnte. Wie alt er sein könnte. Sein Bildungsstand. Wie gut er sich mit Computern auskennt. Ob er überhaupt aus China stammt. Susan Hopkins' Leute haben mir gesagt, dass der Kerl fließend Englisch spricht. Wie stehen die Chancen, dass er hier in den Staaten, in Kanada oder Hongkong geboren wurde? Oder irgendwo anders. Chinesen gibt es überall.“
Swann schüttelte den Kopf. „Wenn der Kerl ein Agent ist, werde ich ihm diese Dinge nicht ansehen können. Er wird zu gut darin sein, seine Herkunft zu verbergen.“
„Sag mir einfach, was du denkst“, sagte Luke. „Das ist keine Matheaufgabe. Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Ich will nur deine Meinung hören.“
Swann nickte. „Verstanden.“
Luke schaute ihn etwas genauer an. „Wie zimperlich bist du?“
Er hatte sich noch nie Sorgen um Swanns Persönlichkeit gemacht, aber jetzt kam es ihn in den Sinn, dass er so etwas wie ein schwaches Glied sein könnte.
„Zimperlich? Wie meinst du das?“
„Ed und ich müssen da drin vielleicht etwas die Muskeln spielen lassen, wenn du verstehst.“
„Nun, sag mir einfach Bescheid und ich mache einen kleinen Spaziergang.“
„Wink den Scharfschützen zu, wenn du schon dabei bist“, sagte Ed Newsam.
Etwa hundert Meter entfernt stand ein dreistöckiger Wachturm. Luke und Swann warfen einen Blick darauf. Ein Mann mit einem Gewehr stand im obersten Stockwerk und zielte scheinbar auf sie. Aus dieser Entfernung sah es so aus, als hätte er das Gewehr direkt auf sie gerichtet und als hätte er sie mit seinem Zielfernrohr im Blick.
„Kann er uns von dort aus treffen?“, fragte Swann.
„Vermutlich im Schlaf“, erwiderte Luke.
„Er übt doch nur“, sagte Ed. „Ihm ist bestimmt todlangweilig.“
Sie betraten die Hütte.
*
Der Mann trug einen knallgelben Overall. Er saß auf einem Metallklappstuhl mitten in einem leeren Raum. Er war groß, hatte breite Schultern, dicke Armen und Beine und einen ausgeprägten Bauch.
Er trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf. Seine Handgelenke waren hinter seinem Rücken gefesselt, seine Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Er war nach vorne gebeugt, als würde er schlafen. Mit der Kapuze über dem Kopf war es unmöglich, das zu erkennen.
Luke zog die Kapuze vom Kopf des Mannes ab. Der Mann zuckte scheinbar überrascht zusammen und setzte sich auf. Sein tiefschwarzes Haar war zerzaust – es stand an einigen Stellen in Büscheln auf, an anderen war es flachgedrückt. Unter der Kapuze trug er eine Schlafmaske – die Art, die man sich auf langen Flügen zum Schlafen aufzieht.
Er gähnte, als würde er von einem Mittagsschlaf erwachen.
„Li Quiangguo“, sagte Luke. „ Ni hui shuo yingyu ma? “
Auf Mandarin bedeutete das so viel wie Sprechen Sie Englisch?
Der Mann lächelte breit. „Nennen Sie mich Johnny“, sagte er. „Bitte. Den Namen benutze ich hier im Westen. Und lassen Sie uns Englisch sprechen. Das macht es für alle einfacher, besonders für mich.“
Sein Englisch klang auf jeden Fall amerikanisch, jedoch vollkommen akzentfrei und mit kaum Anzeichen eines regionalen Dialektes. Luke glaubte, einen leichten Dialekt aus dem mittleren Westen feststellen zu können. Aber das war nur schwer zu beurteilen. Er hätte genauso gut von einem Raumschiff heruntergebeamt worden sein können.
„Warum macht es das einfacher für Sie?“, fragte Luke.
„Es schont meine Ohren. Dann muss ich nicht zuhören, wie Sie die schöne chinesische Sprache verunstalten.“
Jetzt lächelte Luke. „Sagen Sie mir, Li. Warum haben Sie sich nicht umgebracht, als Sie die Chance dazu hatten?“
Li sah übertrieben überrascht aus, fast angeekelt. „Warum sollte ich das tun? Ich liebe Amerika. Und man hat mich bis jetzt ziemlich gut behandelt.“
Es war interessant so etwas von einem Mann zu hören, der über Nacht an einen Metallstuhl gefesselt worden war, mit einer schwarzen Kapuze und Flugzeugblenden auf dem Kopf und sich in einem Gefangenenlager befand, das nicht existierte, ohne die Möglichkeit, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Technisch gesehen war er nicht einmal verhaftet worden. Einen Anwalt hatte er auch nicht sehen dürfen. Man würde nicht gerade viele Leute finden, die ihm zustimmen würden, wenn er sagte, er wäre gut behandelt worden. Er war bis jetzt zwar nicht gefoltert wurden, doch die meisten würden ihre Messlatte wohl etwas höher ansetzen.
Li schien Lukes Gedanken lesen zu können. „Ich habe heute Morgen die Vögel draußen zwitschern hören. Daher wusste ich, dass es ein neuer Tag war.“
Luke griff zog dem Mann mit einer Hand seine Schlafmaske ab. „Vogelzwitschern am frühen Morgen. Wie schön. Es freut mich zu hören, dass Sie Ihren Aufenthalt bisher genossen haben. Leider werden sich die Dinge bald ändern.“
„Ah.“ Die Augen des Mannes blinzelten in der plötzlichen Helligkeit. Er blickte umher und sah Swann und Ed Newsam an. Seine Augen richteten sich auf Ed.
Ed war an die Wand gelehnt. Er schien entspannt und gleichzeitig bedrohlich. Sein Körper bewegte sich kaum. Es war so viel potentielle Energie in ihm gespeichert, dass er wie ein Sturm aussah, der jeden Moment losbrechen konnte. Seine Augen wichen denen des Chinesen nicht aus.
„Ich verstehe“, sagte Li.
Luke nickte.
Lis Gesicht verhärte sich. „Ich bin nur ein Tourist. Das ist alles nur eine schreckliche Verwechslung.“
„Wenn Sie ein Tourist sind“, sagte Ed, „dann möchten Sie uns vielleicht die Namen und Kontaktinformationen Ihrer Familie geben, damit wir sie wissen lassen können, wo Sie sind. Sie wissen schon, und ihnen sagen, dass es Ihnen gut geht.“
Li schüttelte den Kopf. „Ich würde gerne die chinesische Botschaft kontaktieren.“
„Unsere Vorgesetzten haben das bereits für Sie getan“, sagte Luke. Das stimmte nicht, soweit er wusste. Er bluffte, aber er hatte das Gefühl, dass der Bluff sich auszahlen würde.
„Es war keine offizielle Anfrage, wie Sie sich vielleicht aufgrund der Situation vorstellen können“, sagte er. „Vielleicht beunruhigt es Sie zu hören, dass die chinesische Regierung nichts von Ihrer Existenz zu wissen scheint. Es gibt keine Schulaufzeichnungen, keine Arbeitsaufzeichnungen, keine Heimatstadt oder Familienverhältnisse. Wir haben ihnen einen Scan von Ihrem Pass geschickt und sie haben uns gesagt, dass es sich um eine raffinierte Fälschung handelt.“
Li starrte geradeaus. Er reagierte nicht.
Luke pausierte einen Moment. Es gab keinen Grund, überflüssig Konversation zu führen. Er wusste, wie schnell Agenten weich wurden, wenn ihre Vorgesetzten sie im Stich ließen. Weich werden war vielleicht nicht das richtige Wort. Manchmal wechselten sie sogar ohne jeden Widerstand die Seiten.
„Li, haben Sie mich gehört? Sie werden Sie nicht beschützen. Sie werden nicht davonkommen. Sie haben die Pillen nicht genommen, als Sie die Chance dazu hatten und jetzt sind Sie hier. Es gibt keinen Ausweg. Laut Ihrer Regierung existieren Sie nicht und haben auch nie existiert. Die Einrichtung, in der Sie sich jetzt befinden, existiert ebenfalls nicht. Wir könnten Sie in einem Fass auf dem Meeresgrund versenken oder Sie in die Wüste schicken, wo Ihnen Geier die Augen aushacken… niemand würde es je erfahren.“
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