„Du hast den Beruf verfehlt“, sagte Luke. „Du hättest nach Hollywood gehen können, wenn man nach dem geht, was ich da drin gesehen habe.“
Sie bewegten sich den Betonweg hinunter zu dem wartenden schwarzen SUV. Zwei Männer in FEMA-Overalls waren gerade ausgestiegen und gingen in die Kabine. Luke blickte sich um. Überall um sie herum waren Zäune und Stacheldraht. Hinter dem nächsten Wachturm erhob sich ein steiler grüner Hang in Richtung der nördlichen Berge von Georgia.
Swann lächelte. „Ich hab mein Bestes gegeben.“
„Also ich habe es dir abgekauft“, sagte Ed.
„Naja, es war schon echt. Ich brauchte nicht groß zu schauspielern. Ich bin wirklich nicht dafür, Leute zu foltern.“
„Wir auch nicht“, sagte Ed. „Jedenfalls nicht immer.“
„Habt ihr es durchgezogen?“, fragte Swann.
Luke lächelte. „Was denkst du?“
Swann schüttelte den Kopf. „Ich war erst zehn Minuten weg, als ihr rauskamt, also denke ich nicht.“
Ed klopfte ihm auf den Rücken. „Na dann ist ja gut, du alter Datenanalytiker.“
„Was denn nun, habt ihr, oder habt ihr nicht?“, fragte Swann. „Jungs?“
Innerhalb weniger Minuten saßen die drei wieder im Hubschrauber, stiegen über dem dichten Wald auf und flogen in Richtung Süden nach Atlanta.
10:05 Uhr
Marine-Observatorium – Washington, DC
„Herr Abgeordneter, danke, dass Sie gekommen sind.“
Susan Hopkins streckte dem großen Mann in seinem blauen Anzug die Hand entgegen. Michael Parowski war Abgeordneter aus dem Bundesstaat Ohio. Er hatte frühzeitig weiße Haare und zusammengekniffene, blassblaue Augen. Mit seinen 55 Jahren sah er immer noch auf eine raue Art attraktiv aus. In eine Arbeiterfamilie geboren hatte er die großen Hände und breiten Schultern eines Mannes, der seine Karriere als Eisenarbeiter begonnen hatte.
Susan kannte seine Vorgeschichte. Er war sein Leben lang Junggeselle gewesen. Aufgewachsen war er in Akron, als Sohn von Immigranten aus Polen. Als Teenager war er Boxer im Golden Gloves Amateurturnier gewesen. Die Industriestädte des Nordens, Youngstown, Akron und Cleveland waren seine Heimat. Die Unterstützung, die er von den Menschen dort erfuhr, war unerschütterlich. Mehr noch, er war dort schon fast so etwas wie eine Legende. Er befand sich in seiner neunten Amtszeit und dass er dieses Jahr wiedergewählt werden würde, war so gut wie sicher. Diese Frage stellte sich gar nicht. Würde die Sonne morgen wieder aufgehen? Würde sich die Erde weiterhin um ihre Achse drehen? Würde ein Ei, das man in der Küche fallen lässt, auf dem Boden zerspringen? Er war so etwas wie eine Naturgewalt. Er würde nirgendwo hingehen.
Susan hatte Videos seiner Reden gesehen, die er auf Wahlveranstaltungen, Feiertagen oder ethnischen Festen hielt (denen er übrigens völlig unabhängig von der Abstammung beiwohnte – ob Polen, Griechen, Puerto Ricaner, Italiener, Afroamerikaner, Iren, Mexikaner, Vietnamesen) und bei denen er durch die Menschenmengen watete. Er schüttelte jede Hand, klopfte auf jeden Rücken, umarmte, wen er nur konnte. Sein Markenzeichen war es, Frauen ins Ohr zu flüstern.
Inmitten der Menschenmenge, egal ob es Dutzende oder Hunderte waren, die sich an ihn drängten, nahm er stets eine ältere Dame zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr. Manchmal lachten sie, manchmal wurden sie rot, andere tadelten ihn spielerisch. Die Menge betete ihn an und keine der Damen wiederholte je, was er zu ihr gesagt hatte. Es war politisches Theater auf höchstem Niveau und wenn sie ganz ehrlich war, liebte Susan diese Momente.
Hier in DC war er jedoch ganz der Geschäftsmann. Er war einer der besten Freunde der Arbeiterbewegung auf dem Capitol Hill. Wenn es um Themen ging, die Susan am Herzen lagen, war er jedoch nicht ganz auf ihrer Wellenlänge: Frauenrechte, Rechte für Homosexuelle, oder Umweltschutz. Trotzdem fand sie, dass sie sich gut ergänzten. Sie konnte leidenschaftlich über sauberes Wasser und saubere Luft sprechen oder über die Gesundheit von Frauen und er konnte ihrer Leidenschaft Paroli bieten, wenn er über die Probleme des amerikanischen Arbeiters sprach.
Trotzdem war Susan nicht sicher, ob er der Richtige war, aber die Veteranen ihrer Partei hatten ihr gut zugeredet. Sie wollten ihn für den Job. Um ehrlich zu sein, hatten sie praktisch die Entscheidung für sie getroffen. Was sie besonders an ihm zu schätzen schienen, war sein Durchhaltevermögen. Er trank nicht, er rauchte nicht und es schien so, als müsste er nie schlafen. Er lebte im Flugzeug und sprang scheinbar problemlos zwischen Washington und seinem Bezirk hin und her. Er war immer anwesend, wenn es eine dringende Komiteesitzung oder Abstimmungen gab. Sechs Stunden später stand er auf einem Friedhof in Youngstown, scheinbar unbeeinträchtigt, pflichtbewusst mit Tränen in den Augen, seine großen, starken Arme um die Mutter eines toten Soldaten gelegt, während sie Trost an seiner Brust suchte.
Manche behaupteten, er sei noch mit einigen Mafiosi befreundet, die sich in seiner Jugend in seiner Nachbarschaft herumgetrieben hatten… doch das trug nur zu seinem Ruf bei. Er konnte weich oder hart sein, er war loyal und er war niemand, mit dem man sich anlegen wollte.
Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Frau Präsidentin, was verschafft mir diese Ehre?“
„Bitte, Michael. Für dich ist es immer noch Susan.“
„Okay. Susan.“
Sie führte ihn zurück in ihr Arbeitszimmer. Als Vizepräsidentin hatte sie schon lange darauf verzichtet, wichtige Meetings in ihrem Büro abzuhalten. Sie bevorzugte die etwas zwanglosere Atmosphäre und die schöne Umgebung des Arbeitszimmers. Als sie hereinkamen, war Kat Lopez bereits da und wartete.
„Kennen Sie meine Stabschefin, Kat Lopez?“
„Ich hatte noch nicht das Vergnügen.“
Die beiden gaben sich die Hand. Kat schenkte ihm eines ihrer seltenen Lächeln. „Herr Abgeordneter, ich bin schon seit der Uni ein großer Fan.“
„Wann war das, letztes Jahr?“
In dem Moment passierte etwas untypisches für Kat. Sie wurde rot. Nur kurz, und es war fast sofort wieder verschwunden, aber Susan sah es trotzdem. Parowski hatte einfach auf jeden eine Wirkung.
Susan bot ihm einen Stuhl an. „Sollen wir uns setzen?“
Parowski setzte sich in einen der bequemen Sessel. Susan saß ihm gegenüber. Kat stand hinter ihr.
„Mike, wir kennen uns schon sehr lange. Also werde ich nicht groß um den heißen Brei reden. Wie du weißt, wurde ich ziemlich unerwartet Präsidentin, als Thomas Hayes starb. Ich habe etwas Zeit gebraucht, um in Fahrt zu kommen. Und ich habe die Wahl meines Vizepräsidenten vor mich hergeschoben, bis die unmittelbare Krise vorbei war.“
„Ich habe einige Gerüchte darüber gehört, was gestern passiert ist“, sagte Parowski.
Susan nickte. „Sie stimmen. Wir glauben, es war ein Terroranschlag. Aber wir werden es, wie andere Vorfälle auch, überleben und wir werden noch stärker und widerstandsfähiger daraus hervorgehen. Und das können wir unter anderem mit einem starken Vizepräsidenten erreichen.“
Parowski starrte sie nur an.
Susan nickte. „Mit dir.“
Er sah zu Kat Lopez hinauf, dann wieder zu Susan. Er lächelte.
„Ich dachte, du wolltest mich bitten, ein paar Stimmen für dich im Abgeordnetenhaus zu sammeln.“
„Das werde ich auch“, sagte sie. „Aber ich möchte, dass du das als Vizepräsident und damit Präsident des Senats tust, nicht als Abgeordneter aus Ohio.“
Sie hob die Hände. „Ich weiß. Es fühlt sich an, als würde ich dir das in den Schoß werfen, und das tue ich auf gewisse Art auch. Aber ich habe meine Fühler ausgestreckt und in den letzten sechs Monaten mit genug Leuten geredet, die wissen was sie tun. Dein Name ist der, der immer wieder auftaucht. Du bist unglaublich beliebt in deinem Bezirk und der gesamte Norden der Vereinigten Staaten steht hinter dir. Sogar die konservativen Arbeiterviertel im Süden mögen dich. Und du scheinst das Durchhaltevermögen zu haben, das ich brauche, wenn es in ein paar Jahren um eine Wiederwahl geht.“
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