In diesem Augenblick erklang ein Grunzen. Ein tiefer, dumpfer Laut, der das Gras niederzudrücken schien und den Boden in. Schwingung versetzte. Ein Laut, der das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. Direkt hinter ihm.
Egomo glaubte einen heißen Lufthauch in seinem Nacken zu spüren. Er schloss die Augen in der Gewissheit, dass sein Leben hier endete. Schon bald würden seine Eingeweide neben denen der unglücklichen Soldaten liegen.
Ganz langsam erhob er sich und drehte sich um. Das Schnauben war jetzt sehr nah. Die Luft, die aus den Nüstern des gewaltigen Tieres drang, fuhr ihm durch die Haare. Sie war warm und roch nach brackigem Wasser.
Er hob den Kopf und richtete seinen Blick auf das riesige Wesen, das wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war und aus tellergroßen Augen auf ihn herunterstarrte.
Dienstag, 9. Februar
Flug Air France Nr. 896
M eine sehr geehrten Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän. Wir verlassen jetzt unsere Reiseflughöhe von elftausend Metern und nähern uns Brazzaville. Die voraussichtliche Ankunftszeit beträgt 17.15 Uhr, bei strahlendem Sonnenschein und 32 Grad Celsius.«
Die näselnde Stimme aus dem Cockpit weckte mich aus einem wohligen Halbschlaf. Ich schlug die Augen auf und blickte irritiert auf meine Armbanduhr. Ich hatte tatsächlich zehn Stunden geschlafen, ohne zu essen, zu trinken oder zur Toilette zu gehen. Ich konnte mich nicht einmal mehr an den Start erinnern, nur noch daran, wie Sarah mich mit quietschenden Reifen nach Heathrow gefahren hatte, wie ich buchstäblich im letzten Augenblick eingecheckt hatte, wie wir uns zum Abschied geküsst hatten und ich durch die Zollkontrolle geschlüpft war. Ich hatte noch das Bild vor Augen, wie sie hinter der Absperrung stand und mir zuwinkte, während ihr Tränen übers Gesicht liefen. Danach war ich in ein großes, dunkles Nichts gefallen.
Die Erinnerung an den gestrigen Tag und die Nacht wirkte seltsam unwirklich in der klimatisierten Stahlhülle des Flugzeugs. Ich streckte mich und sagte mir, dass ich so ziemlich alles verpasst hatte, was meinen Flug hätte aufregend und unterhaltsam machen können. Ich hatte die Alpen verschlafen, das Mittelmeer, die Sahara und die Überquerung des Äquators. Ich würde niemandem zu Hause erzählen können, wie abenteuerlich eine Reise über sechzig Breitengrade hinweg war, welche Farben die Wüste und welche Struktur das Meer hatte. Aber, um ehrlich zu sein, es machte mir nicht das Geringste aus.
Verwundert blickte ich an mir herab. Um meinen Hals schmiegte sich ein aufblasbares Nackenkissen, von dem ich keine Ahnung hatte, wie es dorthin gekommen war. Während ich die Luft abließ, starrte ich durch das Fenster nach unten. Was ich dort sah, verschlug mir den Atem. Ein hauchdünner weißer Streifen bildete die Übergangszone zwischen zwei endlosen Farbflächen, die eine blau, die andere grün. Wir waren zu hoch, um Einzelheiten erkennen zu können, doch es konnte sich nur um das Meer und den Dschungel handeln. Den endlosen, atemberaubenden Dschungel.
Ich konnte weder Straßen noch Felder oder Siedlungen ausmachen, nur Bäume. Abertausende von Bäumen, so weit das Auge reichte.
»C'est formidable, n'est-ce pas?«, sagte eine tiefe Stimme neben mir. Ich sah überrascht auf und blickte in das Gesicht eines gut aussehenden Schwarzen, der seinen Kopf vorstreckte, um ebenfalls einen Blick auf die grüne Endlosigkeit zu erhaschen.
»Das ist meine Heimat«, fuhr der Mann fort. »Dort unten bin ich geboren.« Er murmelte einen Namen und streckte mir seine Hand entgegen. Ich lächelte bemüht, während ich seinen Gruß erwiderte und dabei vergeblich versuchte, mich zu erinnern, wie ich in Paris das Flugzeug gewechselt hatte. War es möglich, dass ein gesunder Mensch solche Gedächtnislücken haben konnte? Vielleicht hatte meine Amnesie ja mit totaler Übermüdung und einer erhöhten Dosis Thujon zu tun. Mein Blick wanderte über die Köpfe der Passagiere. Außer mir befanden sich nur noch zwei weitere Weiße im Flugzeug. Erwartungsvolles Gemurmel erfüllte die Kabine, und über allem lag der warme, süßliche Geruch von Schweiß.
»Was hat Sie denn nach Paris geführt?«, nahm ich den Faden wieder auf, denn der Mann neben mir brannte offensichtlich darauf, das Gespräch fortzusetzen.
»Geschäfte«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Ich bin Kunsthändler«, fügte er hinzu und hob seinen Arm, um mich vom Wahrheitsgehalt seiner Worte zu überzeugen. Zahlreiche kunstvoll geflochtene Bänder umschlangen sein Handgelenk, an denen Metallscheiben, die nach Gold aussahen, Holzstücke und Elfenbeinkugeln miteinander um die Wette klingelten. Alles war mit wundervollen abstrakten Gravuren überzogen, die im Licht der einfallenden Sonne überraschend lebendig wirkten.
»Wunderschön«, gab ich zu. »Ich habe die afrikanische Handwerkskunst schon immer bewundert, aber das hier ist wirklich außergewöhnlich. Von welchem Stamm?«, fragte ich, in der Hoffnung, mich nicht als völliger Laie zu outen.
Der Mann schien meine Unkenntnis sogar willkommen zu heißen. Verschwörerisch lächelnd beugte er sich zu mir herüber. »Das erraten Sie nie. Pygmäen. Hätten Sie gedacht, dass die zu so etwas fähig sind?«
Ich wusste nicht, wie ich diese Bemerkung einschätzen sollte, daher hielt ich lieber den Mund. Nach meinen Informationen besaßen die Pygmäen in ihrem Land keinerlei Rechte. Sie wurden behandelt wie die unterste Schicht des Bodensatzes, und ich tat sicher gut daran, mich nicht schon im Flugzeug auf eine Diskussion über Unterdrückung einzulassen.
»Schön, nicht wahr, und günstig dazu«, fuhr der Schwarze neben mir unterdessen fort, ohne zu merken, dass meine anfängliche Sympathie für ihn zu schwinden begann. »In Paris sind sie zurzeit ganz wild danach. Es gibt sogar eine neue Kunstrichtung, die auf Motiven der Pygmäen beruht. Damit ist im Moment viel Geld zu verdienen.«
Ich tippte auf das Elfenbein. »Ist der Export von Elfenbein nicht verboten? Ich dachte, Elefanten stehen nach internationalem Recht unter Schutz.«
»Sie stammen aus Zuchtbeständen«, wiegelte der Mann ab. Für meine Ohren ein wenig zu hastig. Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Bestände der Waldelefanten in den letzten zehn Jahren um beinahe die Hälfte geschrumpft waren. Schuld waren wohl Händler aus dem Sudan und der Republik Zentralafrika, die weiterhin ungehindert wilderten. Ob der Kunsthändler in solche Machenschaften verwickelt war oder nicht, vermochte ich nicht zu sagen.
»Heute gibt es für jedes Stück aus Zuchtbeständen ein Zertifikat«, deklamierte er derweil unverdrossen. »Mein Aktenschrank ist voll davon. Die Jagd nach Elfenbein ist zu Ende.« Er hüllte sich kurz in Schweigen, doch dann tippte er mit dem Finger an die Plexiglasscheibe. »Wissen Sie, wie man die Küste da unten bis vor kurzem noch genannt hat? ... Goldküste. Elfenbeinküste. Sklavenküste.« Er nickte bedeutungsschwer. »Dies hier war eine Hochburg der Sklaverei. Die Stoßzähne der Elefanten wurden von Sklaven aus dem Dschungel hierher transportiert und verschifft. Und das alles zum Wohle des weißen Mannes. Damit sich die Reichen in ihren Bürgerhäusern dem Traum von einem unberührten, unschuldigen Afrika hingeben konnten. Pervers, nicht wahr? Sehen Sie, da unten hat es stattgefunden. Ist noch gar nicht so lange her.«
Ich begann mich unwohl in meiner Haut zu fühlen.
Der Kunsthändler klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Machen Sie sich keine Gedanken, die Zeiten sind vorbei. Jetzt ist alles anders.« Er hob seine Stimme, damit, wie mir schien, möglichst viele Reisende seine Worte hören konnten. »Jetzt sind wir eine Republik. Wohlanständig, gerecht und marxistisch. Mit einer Regierung, die sich um das Wohl jedes Einzelnen sorgt.«
Ich runzelte die Stirn. Sprach er so laut, weil er ernsthaft an den Wahrheitsgehalt seiner Worte glaubte, oder weil er befürchtete, dass sich im Flugzeug un-freundliche Lauscher befanden, die ihn bei einer der zuständigen Behörden anschwärzen konnten?
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