In diesem Moment ertönte wieder die Stimme des Kapitäns aus dem Cockpit. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier spricht ihr Kapitän. Wir befinden uns im Landeanflug auf Brazzaville. Wir werden in einer Viertelstunde landen. Zur rechten Seite sehen Sie den Kongo, der in seinem Unterlauf durch die Demokratische Republik Kongo fließt. Er ist der wasserreichste Fluss Afrikas und ergießt sich mit fünfzigtausend Kubikmetern Wasser pro Sekunde in den Atlantik.«
Ich wandte meinen Kopf, und als ich aus dem Fenster blickte, fühlte ich, wie mein Herz einen Sprung machte. Da war er, der sagenumwobene Kongo. Der gewaltigste Strom Afrikas. Ein silbrig glänzendes Band, das sich durch den Urwald fraß wie eine fette Schlange, während er sich vielfach windend ins Meer ergoss. Was für ein imposanter Anblick. Selbst hier, aus etwa siebentausend Metern Höhe wirkte er Ehrfurcht gebietend. Was für ein kümmerliches Rinnsal war dagegen die Themse, wie sie in ihrem Unterlauf eingezwängt von Industrieanlagen und schmuddeligen Docks dem Meer entgegenvegetierte. Verglichen damit verkörperte der Kongo eine geradezu rohe Kraft. Unbezwingbar und wild. Als ich ihn da so liegen sah, wurde mir mit aller Deutlichkeit bewusst, dass ich den Schutz und die Geborgenheit meiner Heimat endgültig hinter mir gelassen hatte. Ich stand im Begriff, ein Abenteuer anzutreten, das mein ganzes Leben verändern konnte.
»Da ist er«, sagte mein Nachbar mit einem Glitzern in den Augen. »Der Fluss, der alle Flüsse schluckt. Das Grab des Weißen Mannes. So wurde er bei seiner Entdeckung genannt. Wussten Sie, dass die gesamte Region nur deshalb so spät erforscht wurde, weil der Kongo nicht schiffbar war? Der gesamte Unterlauf bestand auf einer Länge von etwa dreihundert Kilometern aus Strudeln, Katarakten, Wasserfällen und Stromschnellen und bildete ein unüberwindliches Hindernis in der damaligen Zeit. Nur ein paar wirklich hartgesottene Missionare und Forscher schafften es, ins Innere vorzudringen, zu Fuß, wohlgemerkt, aber auch da warteten unzählige Gefahren auf sie. Nur den Wenigsten gelang es, mit heiler Haut zurückzukehren. Selbst heute noch ist der Kongo für seine Tücken bekannt. Trotzdem lieben wir den Fluss. Er ist die Hauptschlagader unseres Kontinents, erhält die gesamte Region am Leben. Ohne ihn gäbe es hier nichts.« Er sah mich neugierig an. »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, was Sie eigentlich in unser Land führt. Und erzählen Sie mir nicht, Sie wären ein Tourist. Im Kongo gibt es nämlich keine Touristen.«
Ich hatte auf diese Frage schon lange gewartet und mich entsprechend gewappnet. »WCS, Wildlife Conser-vation Society«, log ich. »Eine biologische Forschungsexpedition in den Ndoki-Nationalpark.«
Ich spürte, wie er sich versteifte. »Sie nehmen mich auf den Arm.«
»Keineswegs«, erwiderte ich und lehnte mich entspannt zurück. »Es ist ein groß angelegtes Projekt mit dem Ziel, die Bestände der Waldelefanten zu ermitteln. Die Franzosen sind beteiligt, die Amerikaner und natür-lich wir. Wir genießen die volle Unterstützung seitens der Regierung«, fügte ich noch hinzu, aber das war schon nicht mehr nötig. Der erste Schlag hatte bereits gesessen. Für die letzten Minuten unserer Reise wurde der Kunsthändler sehr einsilbig. Und er hat doch Dreck am Stecken, dachte ich, sonst hätte er souveräner reagiert. Ich versuchte noch ein-, zweimal das Gespräch wieder aufleben zu lassen, aber es war vergebens. Selbst als das Flugzeug unter dem Beifall der Passagiere butterweich aufsetzte und den Runway entlang zu dem pseudofuturistischen Hauptgebäude des Maya-Maya International Airport fuhr, vermied er jeden Blickkontakt. Von seinem Schmuck war keine Spur mehr zu sehen, denn er hielt seine Hände auffallend gewissenhaft unter seinem Burnus verborgen. Um ehrlich zu sein, er interessierte mich auch nicht mehr, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, die neuen Eindrücke aufzusaugen, die sich draußen vor dem Fenster boten. Eigentlich gab es nichts Spektakuläres zu sehen, nur ein paar flache, rostige Wellblechgebäude am Rande des Rollfelds, Betonplatten, zwischen denen Grünzeug wucherte, und dichte hohe Baumreihen jenseits des Maschendrahtes. Trotzdem war dieser Anblick von einer Fremdheit, die mich sofort in ihren Bann schlug.
Als das Flugzeug stoppte, ging das große Gedränge los. Da ich kein Handgepäck aus einem der oberen Verschläge holen musste, und zudem sehr weit vorne saß, gelang es mir, das Flugzeug als einer der Ersten zu verlassen. Auf der silbernen Treppe hielt ich kurz inne. Die Hitze schlug mir entgegen wie eine Mauer. Es mochte um die fünfunddreißig Grad warm sein, und sofort bildete sich ein Schweißfilm auf meiner Haut. Die Luftfeuchtigkeit war beinahe mit Händen zu greifen. In der Luft lag der Geruch von Moder und verrottenden Pflanzen. Wie im Tropenhaus des Londoner Zoos, dachte ich, während ich die Treppe hinunterstieg und zum Shuttlebus ging. Ich mochte diesen Duft und seine belebende Wirkung.
Im Nu war das wackelige Gefährt voll und fuhr schlingernd Richtung Hauptgebäude. Ich bemerkte, dass es hier von bewaffneten Militärs nur so wimmelte. Junge Burschen, achtzehn bis zwanzig Jahre alt, die ihre Kalaschnikows im Anschlag hielten und nur darauf zu warten schienen, dass irgendetwas passierte. Es wurde nicht besser, als wir das Gebäude betraten. Sie waren praktisch überall, an jedem Durchgang, jeder Tür, jeder Treppe und vor allem an der Gepäckausgabe. Dort stand ein ganzer Pulk. Und was das Schlimmste war, sie schienen mich zu beobachten. Mir kam es vor, als würden mich ihre Blicke überallhin verfolgen. Vielleicht weil ich zu diesem Zeitpunkt der einzige Weiße war, vielleicht aber auch, weil ich mich so fehl am Platze fühlte. Sie riechen meine Angst, schoss es mir durch den Kopf. Ich war froh, als ich endlich meine beiden Reisetaschen in den Händen hielt und Richtung Zollkontrolle entwischen konnte.
Dort stieß ich auf das erste größere Hindernis. Es trat in Form eines bulligen, zwei Meter großen Sicherheitsoffiziers an mich heran und gab mir mit seiner gesamten Ausstrahlung zu verstehen, dass mit ihm nicht zu spaßen sei. Er signalisierte mir, die Arme zu heben und die Beine zu spreizen, was ich natürlich sofort tat. Trotzdem hatte ich, während er mich abtastete, das Gefühl, als würde er sich schon allein durch meine Anwesenheit provoziert fühlen. Er redete in einer Sprache auf mich ein, die ich nicht verstand. Ich bin gewiss kein Sprachgenie, aber neben Französisch und Italienisch verfüge ich noch über rudimentäre Sprachkenntnisse in Suaheli, ein Relikt aus meiner Zeit in Tansania. Nichts davon half mir weiter. Wahrscheinlich handelte es sich um Kikongo oder Lingala, eine der beiden Landessprachen. Vielleicht sollte ich ihn auch gar nicht verstehen, sondern mich nur unwohl fühlen. Falls das in seiner Absicht lag, so hatte er Erfolg. Irgendwann griff er in meine Hemdtasche und zog meinen Kugelschreiber heraus, mit dem er mir vor der Nase herumfuchtelte. Er klang nun deutlich lauter und aggressiver. Bald gesellte sich ein kleinerer Mann zu uns, der mir den Wortschwall in akzentfreies Französisch übersetzte.
»Er fragt Sie, wie es Ihnen gelungen ist, eine Waffe an Bord zu schmuggeln.«
»Wie bitte? Das ist mein Kugelschreiber, mit dem ich seit Jahr und Tag schreibe. Wer kommt auf die Idee, dass ich den als Waffe einsetzen könnte?«
Der Große hielt mir den Stift vor die Nase und tippte mit dem Finger auf die Spitze. Anscheinend hatte er jedes meiner Worte verstanden.
»In unserem Land wären Sie damit nicht durch die Kontrollen gekommen«, erläuterte der Kleine.
»Jeder Zahnstocher ist gefährlicher als das da«, protestierte ich. »Aber jetzt bin ich schon mal da. Was wol-len Sie machen, mich wegen eines Kugelschreibers wieder zurückschicken?« Noch während ich das sagte, merkte ich, dass ich einen Fehler begangen hatte. Der große Wachmann versteifte sich, packte mich am Arm und zog mich mit sich. Der andere lief nebenher und setzte eine amtliche Miene auf. »Wir müssen Sie einer Routineuntersuchung unterziehen«, sagte er. »Nichts Aufregendes, nur die Kontrolle Ihrer Papiere, Impfzeugnisse und Einreisevisa. Ich hoffe, Sie haben alles griffbereit. Bitte folgen Sie uns, ohne Widerstand zu leisten.«
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