In den alten Zeiten hatten wir einen sehr klugen Häuptling. Es war Don Cali, mein Großvater. Eines Tages rief er uns zusammen. Er sagte, wir müssten die neuen Leute, die sich wie Irre aufführten, doch so schlau wie Dämonen waren, verstehen lernen. Wir sollten in Erfahrung bringen, wer sie wirklich waren. Er hat die Jungs gefragt, ob sich jemand freiwillig melden wolle. Ich habe mich gemeldet. Als das nächste Mal Missionare kamen, ließ ich mich fangen und wurde in ein Internat nach La Ceiba geschickt. Man hat mir das Haar abgeschnitten, mich in kratzige Kleider und heiße Schuhe gesteckt und mich verhauen, sobald ich Tawahka sprach. Ich bin zehn Jahre dort geblieben und habe die spanische und englische Sprache gelernt. Außerdem habe ich mit eigenen Augen gesehen, wer die Weißen sind. Es war meine Aufgabe: sie verstehen zu lernen.
Dann ging ich zurück und erzählte meinem Volk, was ich erfahren hatte. Alle sagten: >Das ist ja schrecklich, was sollen wir nur tun?< Und ich sagte: >Überlasst es mir. Wir werden ihnen Widerstand leisten, indem wir ihnen zustimmen.<
Danach wusste ich genau, was ich zu den Männern sagen musste, die mit Aktenkoffern und Papieren in unser Dorf kamen. Ich wusste, wann ich Papiere unterzeichnen musste und wann es besser war, sie zu verlieren. Ich wusste, wann ich mich wie ein Blödmann aufführen musste. Ich wusste, was die Jesusmenschen hören wollten, wenn ich Medizin, Nahrung und Kleider brauchte. Sie brachten jedes Mal ein Bild des neuen Häuptlings mit und erzählten mir, ich solle das Bild des alten wegwerfen, weil man ihn nämlich erschossen habe. Dann dankte ich ihnen, hängte das neue Bild in meiner Hütte auf und umrahmte es mit Blumen.
Und so wurde dann ich Häuptling von Pito Solo. Und jetzt wissen Sie, Curandera, dass ich weiß, wie die Dinge hier laufen. Wir können nichts tun, um den Bergindianern zu helfen. Wir können unser Leben nur sinnlos wegwerfen.«
»Was mich persönlich betrifft«, sagte Sally, »so kann ich nicht einfach fortgehen.«
Don Alfonso legte eine Hand auf die ihre. »Sie sind der mutigste Mensch, den ich kenne, Curandera - auch als Frau.«
»Fangen Sie nicht wieder damit an, Don Alfonso.«
»Sie sind sogar mutiger als die meisten Männer, die ich gekannt habe. Unterschätzen Sie die Bergindianer nicht. Ich möchte ihnen als Soldat nicht in die Hände fallen. Weil mein letzter Blick auf Erden nämlich auf das Feuer fällt, auf dem sie meine Männlichkeit rösten.«
Mehrere Minuten lang sagte niemand ein Wort. Tom fühlte sich ausgesprochen müde. »Dass all dies geschieht, ist unsere Schuld, Don Alfonso. Beziehungsweise die Schuld unseres Vaters. Wir sind dafür verantwortlich.«
»Das ganze Gerede über >seine Schuld, unsere Schuld< führt zu gar nichts, Tomas. Wir können nichts tun. Wir sind machtlos.«
Philip nickte zustimmend. »Ich habe die Schnauze voll von dieser verrückten Reise. Wir werden die Welt nicht retten.«
»Das finde ich auch«, sagte Vernon.
Tom registrierte, dass alle ihn anschauten. Hier wurde eine Art Abstimmung abgehalten, und er musste die Entscheidung treffen. Dann sah er, dass Sally ihn mit einer gewissen Neugier musterte. Er selbst konnte sich irgendwie nicht als Menschen sehen, der einfach so aufgab. Dazu war er zu weit gelangt. »Wenn wir jetzt umkehren, könnte ich es mir später nie verzeihen. Ich halte zu Sally.« Aber es stand noch immer drei zu zwei.
Don Alfonso war noch vor Sonnenaufgang auf den Beinen und brach das Lager ab. Der normalerweise unergründliche Indianer war vor Angst außer sich.
»Gestern Nacht war ein Bergindianer ein paar hundert Meter von unserem Lager entfernt. Ich habe seine Spuren gesehen. Ich selbst habe keine Angst vor dem Tod. Aber ich war schon die Ursache für den Tod von Pingo und Chori und möchte kein weiteres Blut an den Händen haben.«
Tom schaute Don Alfonso zu, wie er ihre Habseligkeiten zusammenpackte. Er hatte ein mulmiges Gefühl. Es war aus. Hauser hatte gesiegt.
»Wo Hauser mit dem Codex auch hingeht und was er auch tut«, sagte Sally, »ich werde mich an seine Fersen hef-ten. Er wird mir nicht entwischen. Auch wenn wir vielleicht in die Zivilisation zurückkehren müssen - ich komme wieder. Die Sache ist damit auf keinen Fall erledigt.«
Philips Füße waren noch immer infiziert, sodass er nicht gehen konnte. Don Alfonso flocht eine Tragematte mit zwei kurzen Stäben, die man als Griffe über die Schultern legen konnte. Das Packen dauerte nicht lang. Als die Zeit zum Abmarsch kam, hievten Tom und Vernon Philip hoch. Sie gingen im Gänsemarsch durch die schmale Lücke in der Vegetation. Sally schwang ihre Machete und marschierte voran. Don Alfonso bildete die Nachhut.
»Tut mir Leid, dass ich so 'ne Belastung bin«, sagte Philip und zog seine Pfeife hervor.
»Du bist eine verdammte Belastung«, stimmte Vernon zu.
»Ja, erlaub mir, dass ich vor Zerknirschung Asche auf mein Haupt streue.«
Tom hörte seinen Brüdern zu. So war es immer gewesen.
Sie zogen sich ständig gegenseitig auf. Manchmal verlief die Sache im freundlichen Bereich, aber nicht immer. Es freute ihn irgendwie, dass es Philip immerhin so gut ging, dass er Vernon auf den Arm nehmen konnte.
»Jemine«, sagte Vernon, »hoffentlich rutsche ich nicht aus und lass dich in ein Schlammloch fallen.«
Don Alfonso überholte sie bei seinem letzten Kontrollgang und überprüfte ihre Rucksäcke. »Wir müssen so leise wie möglich sein«, sagte er. »Und nicht rauchen, Philip. Sie werden es riechen.«
Philip steckte die Pfeife fluchend ein. Es fing an zu regnen.
Den Kranken zu tragen erwies sich weitaus schwieriger, als Tom es sich vorgestellt hatte. Es war sehr beschwerlich, Philip die schlüpfrigen Pfade hinaufzuwuchten, und wenn sie ihn über schwankende Stämme trugen, die sie als Brükke über rauschende Flüsse gelegt hatten, war es eine Übung in Sachen Entsetzen. Don Alfonso beäugte alles mit wachsamen Blicken und zwang sie zu schweigen. Sogar der Einsatz der Macheten wurde verboten. Völlig erschöpft lagerten sie an diesem Nachmittag auf dem einzigen ebenen Fleck Boden, den sie finden konnten - nichts als klitschnas-sem Schlamm. Es goss wie aus Eimern. Das Wasser strömte in den provisorischen Unterstand, den Vernon errichtet hatte, und der Morast war überall. Tom und Sally gingen auf die Jagd und stromerten zwei Stunden durch den Wald, ohne etwas zu finden. Don Alfonso untersagte das Anzünden eines Feuers, da er befürchtete, man könne es riechen.
An diesem Abend bestand ihre Mahlzeit aus rohen, nach Pappe schmeckenden Wurzeln und einigen verfaulten Früchten, in denen sich kleine weiße Würmer tummelten.
Der Regen rauschte pausenlos vom Himmel herab und verwandelte die Bäche in reißende Ströme. Zehn Stunden mörderischer Anstrengung brachten sie gerade mal fünf Kilometer voran. Der nächste und übernächste Tag fielen fast ebenso aus. Auf die Jagd zu gehen war unmöglich, und Don Alfonso gelang es nicht, einen Fisch zu fangen. Als Nahrung blieben nur Wurzeln, Beeren und halb vergammeltes Obst, das Don Alfonso irgendwo zusammenklaubte.
Am vierten Tag hatten sie gerade mal fünfzehn Kilometer zurückgelegt. Der ohnehin vom Hunger stark geschwächte Philip verfiel rapide und wurde erneut hohlwangig. Da er nicht rauchen durfte, verbrachte er den größten Teil des Tages damit, ins Blätterdach des Dschungels hinaufzustar-ren. Wenn man ihn ansprach, reagierte er kaum. Seine Apathie hatte sich wieder breit gemacht. Die körperliche Anstrengung, ihn auf der Matte zu schleppen, führte dazu, dass sie öfter rasten mussten. Sogar Don Alfonso schien zu schrumpfen. Seine Knochen stachen grauenhaft hervor, seine Haut war lose und faltig. Tom wusste nicht mehr, wie es war, wenn man trockene Kleider trug.
Am fünften Tag rief Don Alfonso gegen Mittag zum Halten. Er bückte sich und hob etwas vom Wegesrand auf: eine Feder, an der ein kleines Stück geflochtene Schnur befestigt war.
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