Der Mann lächelte. »Wollen Sie tauchen oder Tarpons fischen?«
»Weder noch. Wir möchten den Fluss hinauf.«
Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes schien zu gerin-nen. »Den Río Patuca?«
»Ja.«
»Aha. Machen Sie eine Abenteuerreise?«
Der Lehrer schaute Vernon an. »Ja.«
»Wie weit wollen Sie fahren?«
»Das wissen wir noch nicht. Eine ziemliche Strecke. Vielleicht bis zu den Bergen.«
»Dann müssen Sie motorisierte Einbaumkanus nehmen.
Der Fluss ist für normale Boote nämlich zu seicht. Manuel!«
Kurz darauf kam ein junger Mann aus dem hinteren Teil des Ladens. Er blinzelte ob der Helligkeit und hatte Fisch-
blut und Schuppen an den Händen.
»Das ist Manuel. Er und sein Vetter Ramon werden Sie führen. Sie kennen den Fluss gut.«
»Wie lange werden wir den Fluss hinauf brauchen?«
»Sie können bis Pito Solo fahren. Eine Woche. Dahinter liegt der Meambar-Sumpf.«
»Und dahinter?«
Der Mann winkte ab. »Sie werden den Meambar-Sumpf ja wohl nicht durchqueren wollen ...«
»Ganz im Gegenteil«, sagte der Lehrer. »Es ist sogar sehr gut möglich, dass wir das tun.«
Der Mann neigte den Kopf, als sei es eine seiner leichte-sten Übungen, sich mit verrückten Amerikanern abzugeben. »Wie Sie wollen. Hinter den Sümpfen sind nur noch Berge. Dann brauchen Sie Nahrung und Ausrüstung für mindestens einen Monat.«
In dem getünchten Raum summte eine Wespe. Sie flog gegen die gesplitterte Fensterscheibe, prallte ab und machte einen neuen Versuch, ins Freie zu gelangen. Der Mann schwang die Fliegenklatsche und erledigte sie mit einer ge-schickten Bewegung. Die Wespe fiel zuckend zu Boden und stach sich in ihrem Schmerz selbst. Ein polierter Schuh kam unter dem Schreibtisch hervor und zermalmte sie zu Mus.
»Manuel, hol Ramón.« Der Mann wandte sich dem Lehrer zu. »Wir können Sie mit allem ausrüsten, was Sie brauchen, Señor. Zelte, Schlafsäcke, Moskitonetze, Benzin, Nahrung, GPS, Jagdausrüstung - alles, was Sie benötigen. Sie können mit Ihrer Kreditkarte zahlen.« Er legte seine Hand ehrfürch-
tig auf einen nagelneuen Kreditkartenautomaten, der mit einem winzigen Wandstecker verbunden war. »Sie brauchen sich um nichts Sorgen zu machen. Wir kümmern uns um alles. Wir sind ein modernes Unternehmen.« Er lächelte. »Wir sorgen dafür, dass Sie Ihr Abenteuer kriegen - aber nicht zu viel davon.«
Der Wagen schnurrte durch die im San-Juan-Becken liegende Wüste nach Norden, der Grenze Utahs entgegen, über einen gewaltigen, einsamen Highway, der sich zwischen endlosen Prärien aus Salbeigestrüpp und Chamisa dahinzog. In der Ferne türmte sich Felsgestein und ragte finster in den blauen Himmel. Tom, der am Steuer saß, empfand große Erleichterung, weil es vorbei war. Er hatte sein Versprechen gehalten und Sally geholfen, in Erfahrung zu bringen, wohin sein Vater verschwunden war. Was sie jetzt tat, war allein ihre Sache. Sie konnte entweder warten, bis seine Brüder mit dem Codex aus dem Dschungel zurückkehrten - vorausgesetzt, sie fanden die Grabkammer überhaupt -, oder den Versuch machen, sie einzuholen. Er jedenfalls war jetzt aus dem Spiel. Er konnte sein friedliches, einfaches Leben in der Wüste wieder aufnehmen.
Tom warf einen verstohlenen Blick auf den Beifahrersitz, den Sally eingenommen hatte. In der letzten Stunde hatte sie kein Wort von sich gegeben. Sie hatte auch nicht gesagt, welche Pläne sie hatte, und Tom wollte es eigentlich auch gar nicht wissen. Er wollte nur zu seinen Pferden zurückkehren, in die Routine seiner Praxis, in sein kühles Adobehaus im Schatten der Pappeln. Er hatte sich abgerackert, um das anspruchslose Leben führen zu können, das er hatte führen wollen, und er war entschlossener denn je, es sich von seinem Vater und seinen verrückten Intrigen nicht zerstören zu lassen.
Sollten seine Brüder ihr Abenteuer doch erleben, wenn sie wollten. Seinetwegen konnten sie das Erbe sogar behalten.
Er musste niemandem etwas beweisen. Nach Sarah wollte er nicht mehr ins kalte Wasser springen.
»Er ist also nach Honduras gereist«, bemerkte Sally. »Sagt Ihnen das nicht, wo er sich aufhalten könnte?«
»Ich habe alles erzählt, was ich weiß, Sally. Er hat vor vierzig Jahren mit seinem alten Partner Marcus Hauser einige Zeit in Honduras verbracht. Sie haben Gräber gesucht und Bananen gepflückt, um Geld zu verdienen. Wie ich gehört habe, hat man sie reingelegt und ihnen irgendeine gefälsch-te Schatzkarte angedreht. Sie sind Monate durch den Dschungel marschiert und fast draufgegangen. Dann haben sie sich wegen irgendwas verkracht, und damit war die Sache zu Ende.«
»Aber Sie wissen genau, dass er nichts gefunden hat?«
»Das hat er jedenfalls immer behauptet. Die Berge im Süden von Honduras waren unbewohnt.«
Sally nickte. Ihr Blick richtete sich nach vorn, in die leere Wüste hinein.
»Was also werden Sie tun?«, fragte Tom schließlich.
»Ich reise nach Honduras.«
»Ganz allein?«
»Warum nicht?«
Tom sagte nichts. Es war ihre Sache.
»Hatte Ihr Vater je Ärger wegen seiner Grabräuberei?«
»Ab und an hatte das FBI ein Auge auf ihn. Man konnte ihm aber nichts anhängen. Mein Vater war einfach zu geris-
sen. Ich weiß noch, wie das FBI unser Haus mal auf den Kopf gestellt und ein paar Jadefigürchen beschlagnahmt hat. Er hatte sie gerade aus Mexiko mitgebracht. Ich war damals zehn, und es hat mich schrecklich geängstigt, als sie vor Morgengrauen an unsere Tür klopften. Aber sie konnten nichts beweisen und mussten den ganzen Krempel zurückgeben.«
Sally schüttelte den Kopf. »Menschen wie Ihr Vater sind für die Archäologie die reinste Pest.«
»Ich weiß nicht so recht, ob ich einen großen Unterschied zwischen dem erkennen kann, was mein Vater getan hat, und was die Archäologen tun.«
»Da besteht ein Riesenunterschied«, erwiderte Sally.
»Plünderer verwüsten Grabstätten. Sie reißen die Dinge aus ihrem Zusammenhang. Ein guter Freund von Professor Clyve wurde einmal in Mexiko verprügelt, als er einige Einheimische daran hindern wollte, einen Tempel zu plündern.«
»Tut mir Leid, das zu hören, aber hungernden Menschen kann man es kaum verübeln, wenn sie versuchen, ihre Kinder zu ernähren, und etwas gegen dahergelaufene Nordamerikaner haben, die ihnen vorschreiben wollen, was sie zu tun und zu lassen haben.«
Sally zog eine Schnute, und Tom bemerkte, dass sie verärgert war. Der Wagen schnurrte über den schillernden As-phalt. Tom schaltete die Klimaanlage ein. Er würde froh sein, wenn alles vorüber war. Sein Leben konnte Komplikationen wie Sally Colorado nicht gebrauchen.
Sally warf ihr goldfarbenes Haar nach hinten und verbrei-tete einen leichten Duft von Parfüm und Shampoo. »Trotz-dem stört mich etwas. Es geht mir einfach nicht aus dem Kopf.«
»Was denn?«
»Barnaby und Fenton. Kommt es Ihnen nicht auch seltsam vor, dass die beiden gestorben sind, kurz nachdem sie bei dem angeblichen Raub ermittelt haben? Der Zeitpunkt des Unfalls hat etwas, das mir nicht gefällt.«
Tom schüttelte den Kopf. »Das ist einfach nur Zufall, Sally.«
»Mir kommt er nicht ganz geheuer vor.«
»Ich kenne die Ski Basin Road, Sally. Und Nun's Corner ist eine geradezu mörderische Kurve. Die beiden sind nicht die Ersten, die da ums Leben gekommen sind.«
»Was haben sie überhaupt in der Ski Basin Road gemacht?
Die Skisaison ist doch längst vorbei.«
Tom seufzte. »Wenn Sie sich solche Sorgen machen, rufen Sie doch einfach mal diesen Hernandez an und erkundigen sich danach.«
»Das werde ich auch.« Sally holte ihr Handy aus der Handtasche und gab eine Nummer ein. Tom hörte, wie sie ein halbes Dutzend Mal von einer Telefonistin zur nächsten verbunden wurde, bis sie Hernandez schließlich erreichte.
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