Tom hielt inne. Jetzt hatte er wirklich zu viel erzählt.
»Und damit hat es sich? Sie wollen das ganze Erbe einfach so sausen lassen? Und auch den Codex und alles andere?«
»Stimmt.«
»Einfach so?«
»Die meisten Menschen erben ohnehin nichts. Meine Praxis läuft gar nicht schlecht. Mir gefällt mein Leben, und ich liebe dieses Land. Schauen Sie sich doch mal um. Was kann man sich mehr wünschen?«
Tom registrierte, dass Sally nicht die Landschaft musterte, sondern ihn. Ihr Haar leuchtete leicht im silbernen Licht des Mondes. »Auf wie viel verzichten Sie, wenn ich mir diese Frage erlauben darf?«
Tom verspürte angesichts der schieren Größe seiner Erbschaft ein leichtes Stechen, und das nicht zum ersten Mal.
»Es sind mehr oder weniger hundert Millionen.«
Sally stieß einen Pfiff aus. Dann folgte ein langes Schweigen. Irgendwo in den Canyons unter ihnen heulte ein Kojote, dem ein Genosse Antwort gab. Dann sagte Sally: »Herrgott, Sie haben wirklich Mumm.«
Tom zuckte die Achseln.
»Und Ihre Brüder?«
»Philip hat sich mit dem alten Partner meines Vaters zu-sammengetan, um die versteckte Grabkammer zu suchen.
Soweit ich weiß, ist Vernon allein unterwegs. Warum tun Sie sich nicht mit einem von ihnen zusammen?«
Er bemerkte, dass Sally ihn in der Finsternis ziemlich intensiv anschaute. Schließlich sagte sie: »Ich hab's schon versucht. Vernon ist vor einer Woche ins Ausland gereist, und auch Philip ist verschwunden. Sie sind nach Honduras gefahren. Sie standen als Letzter auf meiner Liste.«
Tom schüttelte den Kopf. »Nach Honduras. Da waren sie aber schnell. Wenn sie mit der Beute zurückkehren, können Sie den Codex von ihnen kriegen. Meinen Segen haben Sie jedenfalls.«
Wieder ein langes Schweigen. »Ich kann das Risiko nicht eingehen. Ihre Brüder haben doch keine Ahnung, um was es geht - und wie viel der Codex wert ist. Da könnte alles passieren.«
»Tut mir Leid, Sally. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Professor Clyve und ich brauchen Ihre Hilfe. Die Welt braucht Ihre Hilfe!«
Tom stierte die finsteren Pappelhaine in den Flussauen des San Juan River an. Aus einem fernen Wacholderbaum meldete sich eine Eule.
»Mein Entschluss steht fest«, sagte er.
Sally musterte ihn weiterhin. Ihr Haar war nun über ihren Schultern und auf ihrem Rücken in heftige Unordnung geraten. Ihre Unterlippe war ein schmaler Strich. Die Pappeln warfen gesprenkeltes Mondlicht über ihren Körper; die ver-
schwommenen silbernen Lichtflecke kräuselten und veränderten sich mit der Brise. »Wirklich?«
Tom seufzte. »Wirklich.«
»Dann helfen Sie mir wenigstens ein bisschen. Ich bitte ja nicht um viel, Tom. Kommen Sie mit mir nach Santa Fe.
Stellen Sie mich den Anwälten und Freunden Ihres Vaters vor. Erzählen Sie mir von seinen Reisen und Gewohnheiten. Erübrigen Sie zwei Tage für mich. Helfen Sie mir weiter. Nur zwei Tage lang.«
»Nein.«
»Ist Ihnen je ein Pferd gestorben?«
»Das passiert alle Nase lang.«
»Ein Pferd, das Sie geliebt haben?«
Tom dachte spontan an sein Pferd Pedernal, das an einem antibiotikaresistenten Keuchhusten verendet war. Nie wieder würde er ein so schönes Pferd besitzen.
»Hätten bessere Medikamente es gerettet?«, fragte Sally.
Tom schaute auf die fernen Lichter von Bluff. Zwei Tage waren nicht viel, und irgendwie hatte Sally ja auch Recht.
»In Ordnung. Sie haben gewonnen. Zwei Tage.«
Lewis Skiba, Geschäftsführer von Lampe-Denison Pharmaceuticals, saß reglos an seinem Schreibtisch und blickte auf die graue Reihe von Wolkenkratzern, die sich mitten in Manhattan an der Avenue of the Americas entlangzog. Ein spätnachmittäglicher Regen verfinsterte die Stadt. Das einzige Geräusch in dem getäfelten Büro war das Knistern eines echten Holzfeuers in dem Siena-Marmorkamin aus dem 18. Jahrhundert: eine traurige Erinnerung an bessere Zeiten.
Es war kein kalter Tag, dennoch hatte Skiba die Klimaanlage eingeschaltet, um einen Grund zu haben, Feuer zu machen. Er fand Feuer beruhigend. Es erinnerte ihn irgendwie an seine Kindheit, an den alten Steinkamin in der Holzhütte am See, mit den gekreuzten Hufeisen über dem Kaminsims und den am Gewässer krächzenden Seetauchern. Gott, wenn er doch jetzt dort sein könnte ...
Seine Hand schloss fast gedankenlos die kleine Schublade des Schreibtisches auf und umfasste einen kühlen Kunst-stoffbehälter. Skiba schnippte den Verschluss mit dem Daumennagel auf und entnahm ihm eine trockene kleine eiförmige Pille, die er sich in den Mund steckte und zerkau-te. Sie schmeckte bitter, aber sie verkürzte die Wartezeit.
Und nun der Scotch zum Nachspülen. Skiba griff nach links, schob eine Wandplatte beiseite und nahm eine Flasche sechzig Jahre alten Macallan und ein Whisky-Glas an sich. Er schenkte sich eine ordentliche Lage ein. Der Whisky hatte eine satte Mahagonifarbe.
Ein kühler Spritzer Evian setzte das Aroma frei. Er hob das Glas an die Lippen, kippte einen ordentlichen Schluck in sich hinein und genoss den Geschmack von Torf, Hop-fen, kalter See, Hochlandmoor und feinem spanischem Amontillado.
Als das friedliche Gefühl über ihn hinwegspülte, dachte er sehnsüchtig an den Großen Abflug, das Fortschweben über ein Lichtermeer. Wenn es so weit kam, brauchte er nur noch zwei Dutzend Tabletten einzuwerfen und den Rest des Macallan zu kippen, dann würde er auf ewig in der blauen Tiefe versinken. Dann brauchte er sich vor dem Kongress nicht mehr auf den Fünften zu berufen. Dann brauchte er auch nicht zu behaupten, er sei auch nur ein irregeleiteter inkompetenter Geschäftsführer, der vor der SEC stand. Dann konnte er sich diesen Kenneth-Lay-Scheiß sparen. Dann war er sein eigener Richter, seine eigenen Ge-schworenen, sein eigener Henker. Sein Vater, Sergeant beim Heer, hatte ihn gelehrt, was Ehre war.
Das Einzige, was die Firma hätte retten können, hatte ihr den Todesstoß verpasst. Der große Durchbruch auf dem Arzneimittelmarkt. Alle hatten geglaubt, sie hätten ihn schon in der Tasche. Phloxatan. Mit diesem Medikament, hatten die Erbsenzähler gemeint, könne man die langfristi-gen Kosten für Forschung und Entwicklung problemlos reduzieren, um die laufenden Gewinne hochzutreiben. Sie hatten gesagt, den Analysten würde es nie auffallen, und am Anfang hatten sie es wirklich nicht gemerkt. Es hatte traumhaft funktioniert. Der Preis ihrer Aktien war durch die Decke geschossen. Dann hatten sie angefangen, die laufenden Marketingkosten auf die abschreibbare Forschung und Entwicklung zu verlagern. Als die Aktienkurse weiter gestiegen waren, hatten die Analysten noch immer nichts bemerkt. Dann hatten sie Briefkastenfirmen auf den Cay-man-Inseln und den Niederländischen Antillen Verluste zugewiesen, Kredite als Gewinne verbucht und alles vorhandene Bargeld dazu verwendet, Firmenaktien zurückzukaufen, um den Preis noch weiter hinaufzutreiben und (natürlich) den Wert der ausführbaren Aktienoptionen aufzublähen. Die Aktien hatten einen wahren Höhenflug vollführt. Sie hatten Millionen gescheffelt. Gott, was für ein berauschendes Spiel! Sie hatten jedes Gesetz, jede Regel und sämtliche Strafgesetze gebrochen. Ihr schöpferisches Genie von einem Chefbuchhalter hatte sogar neue erfunden, um sie zu brechen. Und alle selbstherrlichen Aktienla-vierer hatten sich als ungefähr so wahrnehmungsfähig erwiesen wie Yogi Bär. He, ich mach jetzt jede Minute 'nen Dol-lah!
Und jetzt waren sie ganz unten. Es gab keine Regeln mehr, die man beugen oder brechen konnte. Der Markt war endlich aufgewacht. Der Aktienkurs war in den Keller ge-kracht. Jetzt hatten sie keine Tricks mehr im Ärmel. Die Aasgeier kreisten schon über dem Lampe Building in der Avenue of the Americas Nr. 725 und krähten Skibas Namen.
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