»Der Ihren auch, nehme ich an.«
»Ja. Es gibt ein Buch, das alle medizinischen Geheimnisse des Regenwaldes enthält und über Jahrhunderte hinweg ergänzt wurde. Wir reden hier über den üppigsten Regenwald der Welt, in dem Hunderttausende pflanzlicher und tierischer Spezies zu Hause sind; viele davon sind der Wissenschaft noch unbekannt. Die Mayas kannten jede Pflanze und jedes Tier; alles, was in diesem Regenwald existiert.
Und ihr gesamtes Wissen ist in dieses Buch geflossen.«
Sally trabte nun neben Tom her. Ihr offenes Haar wehte, als sie ihn einholte. »Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«
»Bestimmt«, sagte Tom, »hat sich die Medizin seit den alten Mayas ganz schön weiterentwickelt.«
Sally Colorado schnaubte. »Ursprünglich kamen fünfundzwanzig Prozent unserer sämtlichen Arzneimittel aus der Pflanzenwelt. Und doch ... Wussten Sie, dass bisher nur ein halbes Prozent der 265 000 Pflanzenarten dieser Erde auf ihre medizinischen Eigenschaften hin untersucht wurden?
Stellen Sie sich die Möglichkeiten vor! Die erfolgreichste und wirkungsvollste Droge aller Zeiten - Aspirin - wurde ursprünglich in der Rinde eines Baumes entdeckt, die Eingeborene zum Lindern von Schmerzen nutzten. Taxol, ein wichtiges Antikrebsmittel, wird ebenfalls aus Baumrinde hergestellt. Cortison wurde aus Dioscorea-Knollen gewonnen, das Herzmittel Digitalis aus dem Fingerhut, und Peni-cillin aus Schimmel. Tom, dieser Codex könnte die größte medizinische Entdeckung aller Zeiten sein!«
»Ich verstehe, auf was Sie hinauswollen.«
»Wenn Professor Clyve und ich den Codex übersetzen, wird er die Medizin revolutionieren. Und wenn das Sie noch nicht überzeugt, dann habe ich noch etwas anderes auf Lager. Der mittelamerikanische Regenwald verschwindet unter den Sägen der Holzfäller. Dieses Buch wird ihn retten.
Der Regenwald wird plötzlich viel mehr wert sein, wenn er erhalten bleibt. Die Pharmakonzerne werden diesen Ländern Milliarden an Tantiemen zahlen.«
»Und zweifellos auch einen schönen kleinen Profit ein-
streichen. Aber was hat das Buch mit mir zu tun?«
Über den Hobgoblin Rocks stieg nun der Vollmond auf und bemalte die Felsen mit silberner Farbe. Es war ein herrlicher Abend.
»Der Codex gehört Ihrem Vater.«
Tom hielt sein Pferd an und warf Sally einen Blick zu.
»Maxwell Broadbent hat ihn vor fast vierzig Jahren aus einer Grabkammer der Mayas gestohlen. Er hat nach Yale geschrieben und um Hilfe bei der Übersetzung gebeten.
Aber damals war die Maya-Schrift noch nicht dechiffriert.
Der Mann, der den Brief bekam, hielt die Musterseite für eine Fälschung und legte sie in einem alten Aktenordner ab, ohne den Brief zu beantworten. Vierzig Jahre später fiel er Professor Clyve in die Hände. Er wusste sofort, dass er echt ist. Vor vierzig Jahren konnte niemand einen Maya-Text fäl-schen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil nämlich niemand ihre Schrift lesen konnte. Professor Clyve hat den Text jedoch verstanden: Er ist wirklich der einzige Mensch auf dieser Welt, der die Schrift der Mayas fließend lesen kann. Ich versuche seit Wochen Ihren Vater zu erreichen, aber es sieht so aus, als hätte die Erde ihn verschluckt. Deswegen habe ich mich in meiner Verzweiflung an Ihre Fersen geheftet.«
Tom musterte Sally im zunehmenden Zwielicht. Dann lachte er.
»Was ist daran so komisch?«, fragte Sally aufgebracht.
Tom holte tief Luft. »Ich hab schlechte Nachrichten für Sie, Sally.«
Nachdem er ihr alles erzählt hatte, machte sich Schweigen breit.
»Sie nehmen mich auf den Arm«, sagte Sally schließlich.
»Nein.«
»Er hat kein Recht dazu!«
»Ob er's hat oder nicht, jedenfalls hat er es getan.«
»Und was werden Sie dagegen unternehmen?«
Tom seufzte. »Nichts.«
»Nichts? Was soll das heißen, nichts? Sie werden Ihr Erbe doch nicht in den Wind schießen, oder?«
Tom antwortete nicht sofort. Sie hatten nun den oberen Teil des Plateaus erreicht und hielten an, um die Aussicht zu genießen. Die zahllosen zum San Juan River hinabfüh-renden Canyons waren wie finstere Fraktale in die vom Mond beschienene Landschaft geätzt. Dahinter sah er die gelbe Zusammenballung der Lichter von Bluff, und am Rand des Ortes ein Konglomerat von Gebäuden, aus denen seine bescheidene veterinärmedizinische Praxis bestand.
Links ragten die gewaltigen Steinwirbel des Comb Ridge zum Himmel auf, geisterhafte Gebeine im Mondschein. Sie erinnerten Tom erneut daran, warum er eigentlich hier war.
In den Tagen nach dem Schock, als er erfahren hatte, was sein Vater mit ihrem Erbe gemacht hatte, hatte er eines seiner Lieblingsbücher in die Hand genommen: Platos Repu-blik. Er hatte wieder die Abschnitte gelesen, die sich mit dem Er-Mythos befassten, in denen Odysseus gefragt wurde, welche Existenz ihm in seinem nächsten Leben am liebsten sei. Und was wollte der große Odysseus, der Krieger, Liebhaber, Seemann, Forschungsreisende und König sein?
Ein anonymer Mensch, der in irgendeinem abgelegenen Winkel lebte, »unbeachtet von den anderen«. Er wollte nur ein einfaches und friedliches Leben führen.
Plato hatte es gutgeheißen. Und Tom ebenso.
Deswegen, fiel ihm ein, war er damals nach Bluff gezogen.
Es war unmöglich, bei einem Vater wie Maxwell Broadbent zu leben. Es war ein endloses Drama ständiger Ermahnungen, Herausforderungen, Kritik und Instruktionen. Tom war hierher gekommen, weil er hatte flüchten wollen. Er hatte Frieden finden und alles hinter sich lassen wollen.
Den ganzen Mist - und natürlich auch Sarah. Sarah: Sein Vater hatte sogar versucht, Freundinnen für ihn und seine Brüder auszusuchen. Mit katastrophalen Folgen.
Tom warf einen vorsichtigen Blick auf Sally. Der kühle Abendwind spielte mit ihrem Haar. Ihr Gesicht war dem Mondschein zugewandt, ihr Mund stand angesichts der atemberaubenden Aussicht vor Bewunderung und Ehrfurcht ein wenig offen. Eine Hand lag auf ihrem Oberschenkel. Ihr schlanker Leib ruhte leicht im Sattel. Gott, wie schön sie war.
Tom verdrängte den Gedanken verärgert aus seinem Bewusstsein. Sein Leben war eigentlich genau so, wie er es sich wünschte. Es war ihm zwar nicht gelungen, Paläontologe zu werden - dafür hatte sein Vater schon gesorgt -, aber Tierarzt in Utah war das Zweitbeste. Warum sollte er das vermasseln? War er diesen Weg nicht schon einmal gegangen? »Ja«, erwiderte er schließlich. »Ich lege keinen Wert darauf.«
»Und warum nicht?«
»Ich weiß nicht genau, ob ich es erklären kann.«
»Versuchen Sie's.«
»Man muss meinen Vater verstehen. Er wollte sein Leben lang alles steuern, was meine Brüder und ich machten. Er hat uns gelenkt. Er hatte Großes mit uns vor. Doch was ich auch tat - was wir auch taten -, es war ihm nie gut genug.
Wir waren nie gut genug für ihn. Und jetzt das. Ich spiele sein Spiel nicht mehr mit. Mir reicht's.«
Er hielt inne und fragte sich, warum er Sally so viel erzählte.
»Fahren Sie fort«, sagte Sally.
»Er wollte, dass ich Arzt werde. Ich wollte Paläontologe werden und nach Dinosaurierfossilien suchen. Mein Vater meinte, das sei lächerlich - infantil hat er es genannt. Wir schlossen dann den Kompromiss, dass ich Tierarzt werden sollte. Natürlich hat er erwartet, dass ich nach Kentucky gehe und Rennpferde behandle, die Millionen wert sind; dass ich vielleicht sogar in der medizinischen Forschung tätig werde, tolle Entdeckungen mache und den Namen Broadbent in die Geschichtsbücher bringe. Doch ich bin ins Navajo-Reservat gezogen. Und hier will ich bleiben, weil es mir gefällt. Die Pferde hier brauchen mich, und die Menschen auch. Und was die Landschaft Süd-Utahs anbetrifft, so ist sie die schönste der Welt. Außerdem gibt es hier einige der größten Fossilienablagerungen aus der jurassischen Periode und der Kreidezeit auf Erden. Für meinen Vater war mein Umzug in das Reservat ein unglaubliches Versagen und eine große Enttäuschung. Hier ist kein Geld zu verdienen. Hier kann man kein Prestige erringen. An diesem Reservat ist nichts Prächtiges. Seiner Meinung nach hatte ich mit meinem Tiermedizinstudium nur sein Geld verschwendet. Mein Umzug kam ihm wie ein Verrat vor.«
Читать дальше