Mit einer unglaublich schnellen Handbewegung riss Lizzie ein Gewehr von der Wand. Im Bruchteil einer Sekunde zielte sie damit auf Chip. »Los, erschieß dich selbst, da du ohnehin sterben wirst!« Sie meinte es ernst, und sie hatte das Gewehr entsichert. »Erspar mir die Mühe!«
»Ich werde nicht allein gehen«, sagte ihr Liebhaber und schoss Drexell Joyce in die Brust.
Katie kreischte und kippte mitsamt ihrem Stuhl nach hinten, wobei das Blut ihres Bruders auf sie spritzte. Während wir zuschauten, wie er tot zu Boden fiel und Kate kreischte, steckte sich Chip den Lauf seiner Waffe in den Mund und drückte im selben Moment ab wie Lizzie.
20
Nachdem der Sheriff und seine Leute mit uns fertig waren, war ich dermaßen müde, dass ich mich auf der Rückfahrt nach Dallas kaum noch konzentrieren konnte. Und tatsächlich sollten wir nie in Garland ankommen. Als mir klar wurde, dass es keinen Grund gab, dorthin zu fahren, nahm ich die nächste Ausfahrt und buchte uns ein Zimmer. Wir waren mitten im Nirgendwo, nur dass dieses Nirgendwo an der Interstate lag und über ein Motel verfügte. Es war kein besonders gutes Motel, dafür konnten wir uns einigermaßen sicher sein, dass niemand durchs Fenster auf uns schießen würde.
Ein paar Dinge verwirrten mich immer noch, aber beide Schützen waren tot.
Tolliver nahm seine Medikamente, und wir kletterten ins Bett. Die Laken fühlten sich kalt und beinahe feucht an, sodass ich noch einmal aus dem Bett stieg, um die Heizung aufzudrehen. Was zur Folge hatte, dass sich die Vorhänge unangenehm bauschten. Weil ich das kenne, habe ich immer eine große Klammer im Gepäck, die uns auch in dieser Nacht sehr zupass kam. Als ich wieder zwischen die Laken schlüpfte, merkte ich, dass Tolliver bereits schlief.
Beim Aufwachen schien die Sonne. Tolliver war im Bad, machte Katzenwäsche und murrte vor sich hin.
»Was murrst du da?«, fragte ich, setzte mich auf und schwang meine Beine aus dem Bett.
»Ich möchte endlich duschen«, sagte er. »Ich wünsche mir nichts mehr als eine Dusche.«
»Tut mir leid«, sagte ich und meinte es ernst. »Aber noch darf deine Schulter nicht nass werden.«
»Heute Abend können wir versuchen, eine Müll- oder Einkaufstüte darüber zu kleben«, schlug er vor. »Wenn wir sie richtig befestigen, bin ich mit dem Duschen fertig, bevor das Klebeband aufweicht.«
»Wir können es ja mal probieren«, willigte ich ein. »Und, was steht heute auf dem Programm?«
Keine Antwort.
»Tolliver?«
Schweigen.
Ich stand auf und ging zum Bad. »Was ist denn?«
»Heute«, sagte er, »müssen wir mit meinem Dad reden.«
»Müssen wir das wirklich?«, fragte ich vorsichtig.
»Ja«, erwiderte er fest entschlossen.
»Und dann?«
»Dann werden wir in den Sonnenuntergang reiten«, sagte er. »Wir werden nach St. Louis zurückfahren und eine Weile allein sein.«
»Oh, das klingt gut. Ich wünschte, wir könnten das mit deinem Dad ausfallen lassen und gleich ›allein sein‹.«
»Ich dachte, du brennst darauf, mit ihm abzurechnen.« Er begann, sich seinen Bartstoppeln zu widmen, und hielt kurz inne, während eine Wange noch vor Rasiergel glänzte.
Das hatte ich eigentlich auch erwartet. »Es gibt vieles, was ich lieber nicht wissen will«, sagte ich. »Dabei hätte ich mir das nie vorstellen können. Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet.«
Er legte seinen gesunden Arm um mich und drückte mich. »Ich habe auch schon überlegt, Texas noch heute zu verlassen«, sagte er. »Wirklich. Aber das geht nicht.«
»Nein«, pflichtete ich ihm bei.
Ich hatte wie vereinbart Dr. Spradlings Krankenschwester angerufen und ihr erzählt, dass Tolliver keine erhöhte Temperatur hatte, nicht blutete und dass seine Wunde nicht entzündet aussah. Sie ermahnte mich, gut darauf zu achten, dass er seine Medikamente nahm, mehr nicht. Trotz der schockierenden Ereignisse vom Vortag sah Tolliver besser aus denn je, seit er angeschossen worden war. Ich war mir sicher, dass er wieder ganz gesund würde.
Die Fahrt nach Dallas ging ohne Probleme vonstatten, von ein paar kleinen Staus einmal abgesehen. Wir mussten Marks Haus finden, wo wir erst ein Mal gewesen waren. Mark war ein Einzelgänger, und ich fragte mich, wie er und Matthew miteinander auskamen.
Zu meiner Überraschung stand Marks Wagen in der kleinen Auffahrt. Sein Haus war kleiner als das von Iona und damit wirklich winzig. Ich erkannte sofort dieses Summen in der Nachbarschaft, aber es war schwach. Keine Toten in unmittelbarer Nähe.
Schmale Betonplatten führten von der Auffahrt zur Haustür. Die beiden Außenleuchten daneben waren voller Spinnweben, und so etwas wie Gartenpflege war hier unbekannt. Das Haus schien seinem Besitzer völlig egal zu sein.
Mark öffnete uns. »He, was macht ihr denn hier?«, sagte er. »Wollt ihr Dad besuchen?«
»Ja, in der Tat«, sagte Tolliver. »Ist er da?«
»Ja. Dad!«, rief Mark. »Tolliver und Harper sind hier.« Er trat einen Schritt zurück, um uns hereinzulassen. Er trug eine Jogginghose und ein altes T-Shirt. Offensichtlich musste er heute nicht arbeiten. Ich ertappte mich dabei, ihn anzustarren. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber heute ist mein freier Tag. Ich habe keinen Besuch erwartet.«
»Wir haben uns ja auch nicht angemeldet«, sagte ich. Das Wohnzimmer war ungefähr genauso schlicht eingerichtet wie das von Renaldo: Es gab eine große Ledercouch und einen dazu passenden Sessel, einen großen Fernseher und einen Couchtisch, aber keine Leselampen und keine Bücher. Dafür sah ich ein gerahmtes Foto, das uns fünf Kinder zeigte und vor dem Wohnwagen aufgenommen worden war.
»Wer hat denn das gemacht?«, fragte ich überrascht.
»Ein Freund deiner Mutter«, erwiderte Mark. »Dad hat es zusammen mit den anderen Sachen einlagern lassen, als er ins Gefängnis musste. Er hat es sofort ausgepackt, nachdem er seine Sachen wiederhatte.«
Mit Tränen in den Augen sah ich mir das Foto an. Tolliver und Mark standen nebeneinander. Mark lächelte nicht. Tollivers Mundwinkel waren zwar leicht nach oben gezogen, aber sein Blick war finster. Cameron stand neben Mark und hatte einen Arm um ihn gelegt. Gleichzeitig hielt sie Mariellas Hand. Mariella lächelte. Wie die meisten kleinen Kinder liebte sie es, sich fotografieren zu lassen. Ich hielt Gracie im Arm. Wie klein sie war! Welche Gracie war es? Die Gracie nach dem Krankenhausaufenthalt.
»Dieses Foto wurde kurz davor aufgenommen«, sagte ich.
»Kurz wovor?«
»Du weißt schon«, sagte ich erstaunt. »Kurz bevor Cameron verschwand.«
Er zuckte die Achseln, als hätte ich von etwas anderem gesprochen.
Wir standen immer noch, als Matthew hereinkam. Er trug Jeans und ein Flanellhemd. »Ich muss in einer Stunde zur Arbeit, aber ich freue mich, euch zu sehen«, sagte er zu Tolliver und drehte dann den Kopf, damit sein Lächeln auch mir galt.
Danke, aber ich nicht.
»Wir waren gestern bei den Joyces«, sagte ich. »Chip und Drex haben von dir erzählt.«
Mit dem Entsetzen, das nun auf Matthews Gesicht erschien, hatte ich nicht gerechnet. »Ach ja? Und was hatten sie zu sagen? Das ist doch diese reiche Familie, oder? Die mit der Ranch?«
»Du weißt genau, wen wir meinen«, sagte Tolliver. »Du weißt, dass sie zum Wohnwagen kamen.«
Mark sah von seinem Bruder zu seinem Vater. »Diese reichen Jungs?«, sagte er. »Sind das die, für die Harper und du letzte Woche gearbeitet habt?«
»Wir haben uns in letzter Zeit mit einer ganzen Reihe von Leuten unterhalten«, sagte ich. »Auch mit Ida, weißt du noch?«
»Mit der alten Frau, die deine Schwester in einen blauen Truck steigen sah«, sagte Matthew.
»Nur, dass das nicht stimmt!«, sagte ich. »Wie sich herausstellte, war es gar nicht Cameron.«
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