»Wo sind die anderen?«, fragte Tolliver. Seine Stimme war genauso ruhig wie die von Chip.
»Ich habe alle an die entlegensten Enden der Ranch geschickt, und Rosita hat heute frei«, sagte Chip. Er lächelte wieder sein breites, strahlendes Lächeln, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte. »Nur ich und die Familie sind hier.«
Mist.
Chip trieb uns in die Waffenkammer. Noch fiel Tageslicht durch die Terrassentüren, und der Ausblick war genauso schön wie damals, nur dass ich nicht in der Stimmung war, ihn zu bewundern.
Drex war ebenfalls anwesend. Auch er war bewaffnet, was mich erstaunte. Kate war an einen Stuhl gefesselt. Lizzie hatten sie losgemacht, damit sie uns ins Haus lockte. Stricke hingen lose um einen weiteren Stuhl.
»Schön, Sie wiederzusehen, Harper«, sagte Drex. »Wir haben uns im Outback ganz gut amüsiert.«
»Es ging so«, sagte ich. »Nur schade, dass Victoria anschließend ermordet wurde. Das hat mir die Erinnerung an den Abend doch ein bisschen verdorben.«
Er schluckte und wirkte für den Bruchteil einer Sekunde nervös. »Ja, sie war eine sympathische Frau«, bemerkte er. »Sie schien … sie schien etwas von ihrem Geschäft zu verstehen.«
»Sie hat hart für Sie alle gearbeitet«, sagte ich.
»Glauben Sie, dass ihr Mörder jemals gefunden wird?«, fragte Chip und lächelte noch breiter.
»Haben Sie auf Tolliver geschossen?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. Ich hielt es nicht für sinnvoll, das zu übergehen.
»Nö«, sagte er. »Das war mein Kumpel Drex. Drex taugt nicht viel, aber schießen kann er. Ich habe Drex befohlen, Sie zu erschießen. Aber er hatte seine Skrupel.« Er sprach ganz langsam, so als hätte er die Worte gerade erst auswendig gelernt. »Er wollte keine Frau erschießen. Der gute alte Drex ist auf seine Art doch sehr galant. Ich habe versucht, seinen Fehler kurz darauf zu korrigieren, als Sie gerade laufen waren. Doch dann hat sich dummerweise dieser Cop vor Sie geworfen und die Kugel abbekommen. Ich hätte nicht geschossen, wenn ich gewusst hätte, dass er ein Bulle ist. Er kam mir irgendwie bekannt vor, und mir wurde ganz schlecht, als ich erfuhr, dass ich einen Football-Spieler erschossen hatte.«
»Warum wollten Sie uns überhaupt erschießen?«
»Weil Sie das von Mariah wussten und darüber geredet haben. Und wenn Sie gestorben wären, hätte Lizzie die Sache bestimmt wieder vergessen. Ansonsten würde sie immer wieder über das nachdenken, was Sie auf dem Friedhof gesagt haben. Sie würde über den Tod ihres Großvaters nachgrübeln und sich fragen, wer wohl ein Interesse an seinem Tod haben könnte. Und wenn sie das mit dem Baby tatsächlich glaubte, würde sie Nachforschungen anstellen. Lizzie würde liebend gern ein Kind großziehen, sie ist der totale Familienmensch.« Er drückte die Waffe in Lizzies Nacken und küsste sie auf den Mund. Danach spuckte sie aus, woraufhin er lachte.
»Warum sollte ich unbedingt sterben?« Jetzt war ich wirklich neugierig.
»So ist meine Süße nun mal: Sie geht den Dingen auf den Grund, aber nur, solange sie sie vor sich hat. Ansonsten gilt für sie das Sprichwort: Aus den Augen, aus dem Sinn.«
Da unterschätzte er Lizzie meiner Meinung nach, andererseits kannte er sie besser als ich. Bei näherer Betrachtung verstand ich: Chips größter Fehler war der gewesen, mich überhaupt aus Texas herkommen zu lassen. Aber wenn ich starb, würde mein Tod diesen Fehler ungeschehen machen. Natürlich nicht wirklich, aber danach wäre ihm wohler gewesen.
»Lizzie, irgendjemand muss Sie auf meine Webseite aufmerksam gemacht haben«, sagte ich. »Irgendjemand hat Ihnen den entscheidenden Tipp gegeben, nämlich, dass es interessant sein könnte, mich einen Blick auf Ihren Friedhof werfen zu lassen.«
»Ja«, sagte Lizzie. Die Sonne fiel schräg auf die Terrasse, es war etwa halb vier Uhr nachmittags. »Ja, das war Kate.«
»Wie kamen Sie dazu, Kate?«, fragte ich.
Kate war eindeutig in einer schlimmen Verfassung. Ihr Gesicht war kalkweiß, ihre Atmung flach. Ihre Hände waren an den Armlehnen festgebunden, und ich sah, dass ihre Handgelenke wundgescheuert waren. Sie brauchte einen Moment, bis sie meine Frage verstand.
»Drex«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Drex hat mir erzählt, dass er Ihnen mal begegnet ist.«
Chips Kopf fuhr herum wie der einer Klapperschlange kurz vor dem Angriff.
»Drex, deinetwegen haben wir alles verloren!«, sagte er unheilverkündend. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
»Es kam in den Fernsehnachrichten«, flüsterte Drex. »Dass sie in North Carolina ist und die Leichen von diesen Jungs gefunden hat. Ich erzählte Kate, dass ich an ihrem Wohnwagen gewesen war, als sie noch in Texarkana lebte. Und dass ich ihren Stiefvater kannte.«
»Und das haben Sie Lizzie erzählt«, sagte ich zu Kate.
»Sie ist immer auf der Suche nach etwas Neuem«, sagte Kate. »Nur darum geht es hier: etwas zu finden, das Lizzie amüsieren könnte, damit sie glücklich ist.«
Lizzie wirkte vollkommen erstaunt. Wenn wir diesen Tag überlebten, würde sie viele Dinge in einem ganz neuen Licht betrachten.
»Ein Fernsehmoderator hat mich also zur Strecke gebracht.« Chip lachte, aber es war ein hässliches Lachen.
»Wie gut können Sie mit Schlangen umgehen, Chip?«, fragte ich.
»Oh, das ist Drex’ Spezialgebiet«, sagte er und grinste seinen Nebenmann an.
»Um Himmels willen, nein!«, rief Lizzie völlig schockiert. »Drex? Willst du damit sagen, Chip, dass Drex die Klapperschlange nach Granddaddy geworfen hat?«
»Ganz genau, mein Liebling«, sagte Chip, wobei er Lizzies Schulter nicht aus seinem Klammergriff entließ.
»Bist du jetzt völlig durchgedreht, Mann?«, sagte Drexell mit einem ganz anderen Gesichtsausdruck als kurz zuvor. Er sah jetzt längst nicht mehr so verwirrt und verdattert aus. Und auch nicht mehr so schwach. Er wirkte geistesgegenwärtiger und selbstbewusster. »Warum belügst du meine Schwestern?«
»Weil wir nicht damit davonkommen werden«, sagte Chip. »Aber das hast du anscheinend noch nicht begriffen.« Drexell sah völlig verständnislos drein. »Wir haben zu viele Spuren hinterlassen. Wir hätten den Arzt umbringen sollen. Ja, du Arschloch! Irgendwann in den letzten Jahre hätten wir nach Dallas fahren und uns um den alten Idioten kümmern sollen. Wir wussten auch, dass Matthew früher oder später aus dem Gefängnis entlassen würde. Wir hätten vor dem Gefängnistor mit einer Waffe auf ihn warten sollen.«
In diesem Punkt waren wir uns zur Abwechslung einmal einig.
»Du sagst, dass wir nicht damit davonkommen werden«, erwiderte Drex. »Wozu dann diese Geiselnahme? Ich dachte, du spielst ein raffinierteres Spiel. Ich dachte, du hast einen Plan. Du bist einfach nur durchgeknallt.«
»Ja, das bin ich, und ich werde dir auch sagen, warum«, erwiderte Chip. Er ließ Lizzies Schulter los, und sie wirbelte herum, um ihn anzusehen. Dabei machte sie einen Schritt zurück in Richtung der mit Waffen bedeckten Wand. »Ich hatte letzte Woche einen Termin bei einem viel besseren Arzt als Dr. Bowden. Und wisst ihr, was der mir erzählt hat? Ich bin vom Krebs zerfressen. Mit zweiunddreißig! Es ist mir scheißegal, was passiert, wenn ich mal nicht mehr bin. Ich werde nicht lange genug leben, um eure Rache zu fürchten. Und da ich nicht davonkommen werde, soll Drex auch nicht davonkommen.«
In seinem Blick stand die pure Verschlagenheit.
»Du wirst also sterben?«, fragte Lizzie. »Na, prima. Ich wünschte, Drex hätte auch Krebs. Ich will, dass ihr beide sterben müsst.« Sie schien ihre Angst abgeschüttelt zu haben, und ich wünschte, mir ginge es genauso. Ich sah Tolliver an und glaubte nicht, dass wir das überleben würden. Chip würde uns alle umbringen, weil wir sonst leben würden und er nicht.
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