Tolliver war frustriert, weil er das nicht tun konnte, aber Tammy machte es nichts aus, selbst zu gehen. Sie war einen hilflosen Mann gewohnt. Ich stellte keine weiteren Fragen zu Renaldos Gesundheitszustand, denn mehr wollte ich lieber gar nicht wissen. Er sah schlimm aus.
»Tammy«, begann Tolliver, nachdem er und unsere Gastgeberin sich in die Klappstühle gequetscht hatten, die kaum noch ins Zimmer passten. »Wir müssen uns über den Tag unterhalten, an dem mein Vater hier war. Der Tag, an dem Cameron entführt wurde.«
»Oh, logisch, worüber solltet ihr sonst reden wollen«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Wir sind es leid, darüber zu reden, stimmt’s, Renaldo?«
»Ich bin es nicht leid«, sagte er mit einer merkwürdig gedämpften Stimme. »Diese Cameron war ein hübsches Mädchen. Wirklich schlimm, dass sie verschwand.«
Ich fühlte mich, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. Bei der Vorstellung, dass jemand wie Renaldo meine Schwester angaffte, zog sich alles in mir zusammen. Aber ich versuchte, freundlich zu bleiben. »Kannst du uns bitte noch einmal erzählen, was an jenem Tag passiert ist?«, sagte ich.
Tammy zuckte die Achseln. Sie zündete sich eine Zigarette an, und ich versuchte, so lange wie möglich die Luft anzuhalten. »Das ist schon lange her«, sagte sie. »Ich kann es kaum fassen, dass Renny und ich schon so lange zusammen sind, stimmt’s, mein Schatz?«
»Das war eine schöne Zeit«, sagte er angestrengt.
»Ja, wir hatten auch gute Zeiten«, sagte sie gnädig. »Aber die sind jetzt vorbei. Nun, an jenem Nachmittag rief euer Vater an. Er wollte irgendwelche Geschäfte mit Renny machen. Den Cops hat er erzählt, dass er mit Renny Sachen zum Recyclinghof bringen wollte, aber das stimmt nicht. Wir hatten zu viele Oxys da, und dein Dad besaß Ritalin, das er dagegen eintauschen wollte. Deine Mom liebte Oxys.«
»Meine Mom liebte alles«, sagte ich.
»Das kannst du laut sagen, mein Kind«, erwiderte Tammy. »Sie liebte ihre Pillen.«
»Und Alkohol«, sagte ich.
»Das auch«, meinte Tammy. Sie sah mich an. »Aber du bist nicht wegen deiner Mutter gekommen. Sie ist tot.«
Ich verstummte.
»Mein Dad wollte also vorbeischauen«, sprang Tolliver ein.
»Ja«, sagte Tammy und zog so fest an ihrer Zigarette, dass ich einen Hustenanfall befürchtete. »Er kam gegen vier vorbei. Vielleicht auch eine Viertelstunde früher oder später. Maximal fünfundzwanzig Minuten später, aber auf keinen Fall mehr, weil die Fernsehsendung, die ich mir gerade ansah, um halb fünf vorbei war. Und während sie noch lief, war er schon mit Renaldo im Billardzimmer. Sie spielten eine Partie. Damals hatten wir ein schöneres Haus.« Sie sah sich in dem winzigen Raum um. »Ein größeres. Ich sagte der Polizei, dass er ungefähr kurz nach vier gekommen sei. Aber ich achtete nicht weiter auf ihn, bis meine Sendung vorbei war. Und dann wollten sie, dass ich ihnen ein Bier bringe.«
Renaldo lachte, ein unheimliches Hahaha. »Wir haben ein paar Bier getrunken«, sagte er. »Ich habe die Partie gewonnen. Wir haben Pillen getauscht und ein Geschäft gemacht. Wir haben uns amüsiert.«
»Und er blieb hier, bis er einen Anruf bekam?«
»Ja, er hatte ein Handy, wisst ihr. Fürs Geschäft«, sagte Tammy. »Der Typ, der neben euch wohnte, rief an, um Matthew zu sagen, er solle seinen Arsch gefälligst nach Hause bewegen. Dort sei alles voll Polizei.«
»War er überrascht?«
»Ja«, sagte Tammy zu meinem Erstaunen. »Er dachte, sie wären wegen der Drogen gekommen, und ist ausgeflippt. Aber er beeilte sich, schleunigst nach Hause zu kommen, weil er wusste, wie sehr es eure Mutter hasste, verhört zu werden.«
»Ach ja?« Ich staunte aufrichtig.
»Allerdings«, sagte Tammy. »Er hat Laurel abgöttisch geliebt, mein Kind.«
Tolliver und ich tauschten einen Blick. Wenn Renaldo und Tammy recht hatten, konnte Matthew nichts von Camerons Verschwinden gewusst haben. Vielleicht hatte er aber auch nur eine Show abgezogen, um sich ein Alibi zu verschaffen?
»Er ist ausgeflippt«, nuschelte Renaldo. »Er war verzweifelt, dass das Mädchen weg war. Ich habe ihn im Gefängnis besucht. Er meinte, sie wäre bestimmt weggelaufen.«
»Hast du ihm geglaubt?« Ich beugte mich vor und sah Renaldo an, was schmerzhaft, aber notwendig war.
»Ja«, sagte Renaldo deutlich. »Ich habe ihm geglaubt.«
Danach gab es nicht mehr viel zu reden, und wir waren froh, aus dem stinkenden Haus und von seinen hoffnungslosen Bewohnern wegzukommen.
Ich konnte es kaum erwarten, bis Tolliver sich angeschnallt hatte. Ich fuhr rückwärts vom Grundstück, ohne zu wissen, wohin es als Nächstes gehen würde. Ich nahm den Texas Boulevard, um mich orientieren zu können. »Und, was denkst du?«, fragte ich.
»Ich glaube, dass Tammy nur wiederholt, was ihr mein Dad gesagt hat«, erwiderte Tolliver. »Ob das die Wahrheit ist, steht auf einem anderen Blatt.«
»Sie hat ihm geglaubt.«
Tolliver lachte verächtlich, es klang wie ein Schnauben. »Mal sehen, ob wir mit Pete Gresham reden können«, sagte er, und ich fuhr zum Polizeirevier. Auf der State Line Avenue sind zwei Reviere in einem Gebäude untergebracht: das von der texanischen Polizei und das von der von Arkansas. Es gibt zwei verschiedene Polizeichefs. Keine Ahnung, wie das genau funktioniert und wer wofür zahlt.
Wir fanden Pete Gresham an seinem Schreibtisch vor. Man hatte uns erlaubt, ihn in seinem Büro aufzusuchen, und er brütete gerade über einer Akte, die er schloss, als wir vor ihm standen.
»Das ist ja eine Überraschung! Wie schön, euch zu sehen! Es tut mir so leid, dass die Videobänder nichts ergeben haben«, sagte er, stand auf und beugte sich vor, um Tollivers gesunde Hand zu schütteln. »Wie ich hörte, hattet ihr ein paar Probleme in Big D.«
»Na ja, an der Peripherie von Big D «, sagte ich. »Wir waren ganz in der Nähe und dachten, wir schauen mal vorbei. Wir wollten fragen, was du über den anonymen Anrufer weißt, der dir den Tipp mit Cameron gegeben hat.«
»Es war ein Mann, der von einer öffentlichen Telefonzelle aus anrief.« Pete Gresham, ein Riese, der jedes Mal noch riesiger zu sein schien, wenn ich ihn sah, zuckte die Achseln. Er hatte noch immer keine Brille, aber wie uns Rudy Flemmons bereits berichtet hatte, war er vollkommen kahl. »Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
»Können wir uns das Band anhören?«, fragte Tolliver. Ich drehte mich um und sah ihn an. Das kam völlig überraschend.
»Na ja, ich muss die Aufnahme erst einmal heraussuchen«, sagte Pete. Er stand auf und ging zum Lift, während ich Tolliver fragte: »Wie bist du bloß da drauf gekommen?«
»Jetzt, wo wir schon mal da sind …«, meinte er.
Aber Pete war auffällig schnell wieder da. Ich kenne meine Bürokraten: Er konnte das Band unmöglich so schnell gefunden haben. »Tut mir leid, ihr zwei«, sagte er. »Der Typ, der das Zeug aufbewahrt, hat heute frei. Aber morgen ist er wieder da. Kann ich euch anrufen und es euch übers Telefon vorspielen?«
»Klar, kein Problem«, sagte ich. Ich gab ihm meine Handynummer.
»Verdient ihr gut mit eurer Leichensuche?«, fragte er.
»Ja, wir kommen zurecht«, sagte Tolliver.
»Wie ich hörte, hast du dir eine Kugel eingefangen«, bemerkte Pete. »Wem bist du da auf die Zehen getreten?«
»Schwer zu sagen«, meinte Tolliver grinsend. »Matthew ist übrigens aus dem Gefängnis entlassen worden.«
Sofort wurde der Detective wieder ernst. »Ich habe ganz vergessen, dass er kurz vor der Entlassung stand. Ich kenne diese Typen und kann aus Erfahrung sagen, dass sie sich nicht ändern.«
»Ganz meine Meinung«, bemerkte ich. »Wir bemühen uns, ihm so weit als möglich aus dem Weg zu gehen.«
»Wie geht’s den kleinen Schwestern?« Wir gingen inzwischen zum Lift, und Pete begleitete uns.
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