Schließlich und endlich nickte sie. »Ich habe ihn zur Vordertür gebracht«, sagte sie leise.
»Und die Countess lebte noch?«
»Natürlich lebte sie noch«, antwortete Meg. »Sie hat ihm aufgetragen, am nächsten Tag wiederzukommen, aber da hatte man ihn schon verhaftet.«
»Und das werden Sie auch dem Innenminister sagen?«
Sie zögerte, nickte dann aber. »Das werde ich ihm sagen, aber mehr auch nicht.«
»Danke«, erwiderte Sandman.
Ein Meilenstein zeigte, dass sie noch achtzehn Meilen von Charing Cross trennten. Der Rauch der Stadt hing wie bräunlicher Nebel am Himmel, während die Themse zwischen den dunkler werdenden Hügeln schimmerte wie eine Messerklinge. Sandmans Müdigkeit hatte sich verflüchtigt. Ein Teil der Wahrheit dürfte genügen, dachte er, und damit wäre seine Aufgabe erfüllt, Gott sei Dank.
Jemmy Botting, Henker von England, kam am frühen Abend nach Old Bailey, um das fertige Galgengerüst zu überprüfen. Ein oder zwei Passanten, die ihn erkannten, riefen ihm scherzhafte Grüße zu, aber er beachtete sie nicht.
Es gab wenig zu inspizieren. Er musste darauf vertrauen, dass die Balken ordentlich verzapft und fest genagelt und der Stoff sicher angebracht waren. Das Podest schwankte ein bisschen, aber das tat es immer, und die Bewegung war nicht schlimmer als an Deck eines Schiffes in einer leichten Dünung. Er zog den Pflock heraus, der den Trägerbalken der Falltür sicherte, ging in den dämmrigen Raum unter dem Podest und zog an dem Seil, um den Träger beiseite zu schwenken. Er gab mit leichtem Beben nach, die Falltür klappte herunter und die Abendsonne schien herein.
Das Beben gefiel Botting ganz und gar nicht. Noch hatte niemand auf der Falltür gestanden, aber der Balken hatte sich nur widerstrebend bewegt. Er öffnete seine Tasche und holte einen Tiegel Talkum heraus, den der Schiffsausrüster ihm geschenkt hatte. Er kletterte an dem Holzgerüst hinauf und fettete den Balken ein, bis er sich glitschig anfühlte, hob die Falltür an und schob den Träger unbeholfen wieder an seinen Platz. Zwei Ratten beobachteten ihn, und er knurrte sie an. Er stieg wieder hinunter auf das Pflaster von Old Bailey und zog noch einmal an dem Seil. Dieses Mal glitt der Balken reibungslos beiseite, die Falltür klappte herunter und schlug gegen zwei Stützen. »Jetzt klappt’s, was?«, sagte Botting zu den Ratten, die sich durch seine Anwesenheit nicht stören ließen.
Er schloss die Falltür, schob den Träger unter, steckte das Talkum wieder in seine Tasche und stieg auf das Podest, wo er zunächst den Sicherungspflock wieder einsetzte, vorsichtig den Halt der Falltür prüfte, indem er einen Fuß darauf stellte und das Bein langsam belastete. Er wusste, dass sie gesichert war und nicht unter ihm nachgeben würde, aber er prüfte sie dennoch. Er wollte schließlich nicht zum Gespött ganz Londons werden, indem er einen Gefangenen auf eine Falltür stellte, die sich öffnete, bevor er dem Mann den Strick um den Hals gelegt hatte. Bei der Vorstellung musste er grinsen. Zufrieden, dass alles in Ordnung war, ging er an die Schuldnerpforte und klopfte laut. Im Gefängnis würde er ein Abendessen und anschließend eine Schlafkammer über der Pförtnerloge bekommen. »Hast du Rattengift?«, fragte er den Schließer, der die Tür öffnete. »Da sind Ratten so groß wie Füchse unter dem Galgen. Das Podest steht noch keine zwei Stunden, und schon sind die verdammten Ratten da.«
»Überall sind Ratten«, sagte der Wärter und schloss die Tür.
Da es selbst an diesem warmen Abend in den Kellergewölben des Gefängnisses Newgate kalt war, zündete man ein Kohlenfeuer in dem kleinen Kamin an, bevor Charles Corday und der andere Verurteilte in die Todeszelle gebracht wurden. Der Kamin zog anfangs nicht richtig und der Rauch quoll in die Zelle. Sobald die Esse warm wurde, klärte sich die Luft, aber der Rauchgestank blieb. Man stellte einen Eimer als Nachtgeschirr in die Ecke der Zelle, aber keinen Wandschirm, hinter den sich die Gefangenen für ihr Geschäft hätten zurückziehen können. Zwei eiserne Pritschen mit Strohmatratzen kamen an die Wand, und ein Tisch mit Stühlen wurde für die Wärter aufgestellt, die die Gefangenen über Nacht bewachen sollten. An Eisenhaken hängte man Lampen auf. In der Abenddämmerung brachte man die beiden Männer, die am nächsten Morgen sterben sollten, in die Zelle und gab ihnen eine Henkersmahlzeit aus Erbsbrei, Schweinekoteletts und Kohl. Der Gefängnisverwalter kam während des Essens, um nach ihnen zu sehen, und während er wartete, bis sie ihre Mahlzeit beendet hatten, dachte er, wie verschieden die beiden Männer doch waren. Charles Corday war schmächtig, bleich und nervös, während Reginald Vendables ein hünenhafter Rohling mit dichtem, dunklem Bart und hartem Gesicht war, aber Corday hatte einen Mord begangen und Venables wurde für den Diebstahl einer Uhr gehängt.
Corday stocherte nur in seinem Essen herum, legte sich bald mit klirrenden Fußeisen auf die Pritsche und starrte mit großen Augen an die Gewölbedecke. »Morgen …«, setzte der Verwalter an, als Venables fertig gegessen hatte.
»Ich hoffe, dass der verfluchte Pfaffe nicht dabei ist«, fiel Venables ihm ins Wort.
»Ruhe, wenn der Verwalter redet«, knurrte der Oberaufseher.
»Der Pfarrer wird da sein, um euch seelischen Beistand zu leisten, so gut er kann«, sagte der Verwalter. Er wartete, bis der Wärter den Tisch abgeräumt hatte. »Morgen werdet ihr von hier in den Aufenthaltsraum gebracht, wo man euch die Eisen abnimmt und die Arme fesselt. Das Frühstück bekommt ihr vorher, aber im Aufenthaltsraum gibt es einen Branntwein für euch, und ich rate euch, ihn zu trinken. Danach gehen wir auf die Straße.« Er machte eine Pause. Venables schaute ihn abweisend an, während Corday gar nicht zuzuhören schien.
»Es ist üblich, dem Henker ein Trinkgeld zu geben, denn er kann euren Übergang ins Jenseits weniger schmerzhaft gestalten. Ich kann solche Nebeneinnahmen zwar nicht billigen, aber da er der Stadt, und nicht dem Gefängnis untersteht, kann ich auch nichts dagegen unternehmen. Selbst ohne ein solches Trinkgeld werdet ihr feststellen, dass eure Strafe nicht schmerzhaft, sondern bald vorüber ist.«
»Verdammter Lügner«, schnaubte Venables.
»Ruhe!«
»Schon gut, Mister Carlisle«, sagte der Verwalter zu dem beleidigten Wärter. »Manche Männer gehen unwillig zum Galgen und versuchen, die notwendigen Arbeiten zu behindern. Es gelingt ihnen nicht. Wenn ihr Widerstand leistet, wenn ihr euch wehrt, wenn ihr versucht, uns Scherereien zu machen, werdet ihr trotzdem gehenkt, es wird für euch nur schmerzhafter. Das Beste ist, wenn ihr mitarbeitet. Es ist leichter für euch und für eure Lieben, die vielleicht zusehen.«
»Leichter für euch, meinen Sie wohl«, warf Vendables ein.
»Keine Pflicht ist leicht«, sagte der Verwalter scheinheilig, »nicht, wenn sie gewissenhaft erfüllt wird.« Er ging zur Tür. »Die Schließer bleiben die ganze Nacht hier. Wenn ihr seelischen Beistand haben möchtet, könnt ihr den Ordinarius rufen lassen. Ich wünsche euch eine gute Nacht.«
Zum ersten Mal tat Corday den Mund auf: »Ich bin unschuldig.« Fast brach seine Stimme.
»Ja«, sagte der Verwalter peinlich berührt, »ja, wahrhaftig.« Da er dazu weiter nichts zu sagen vermochte, nickte er lediglich den Wärtern zu. »Gute Nacht, meine Herren.«
»Gute Nacht, Sir«, antwortete Mister Carlisle, der Oberaufseher, und stand stramm, bis die Schritte des Verwalters im Korridor verklangen. Schließlich drehte er sich zu den beiden Gefangenen um und knurrte: »Wenn ihr seelischen Beistand wollt, dann stört mich und den Reverend Cotton gefälligst nicht, sondern kniet euch hin und stört den da oben, indem ihr ihn um Verzeihung bittet. So, George«, sagte er zu seinem Kollegen, »Pik ist Trumpf, ja?«
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