»Jetzt ist es überhaupt kein Fahrzeug mehr«, knurrte Berrigan. Er war aus dem schräg geneigten Fahrgastabteil geklettert und half den beiden Frauen auf die Straße.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Mackeson Sandman.
Sandman balancierte auf dem Dach der Kutsche, beobachtete die Straße dahinter und lauschte. Der Radbruch war mit erheblichem Lärm vonstatten gegangen, und die Kutsche hatte laut auf der Böschung aufgesetzt, nun meinte er wieder Hufschläge zu hören.
Er zog die Pistole. »Still! Alle!«
Er war sicher, dass er Hufe hörte und dass sie näher kamen. Er spannte die Waffe, sprang auf die Straße und wartete.
Reverend Horace Cotton, der Gefängnispriester von Newgate, kauerte mit geschlossenen Augen auf seiner Kanzel und wirkte, als sammele er alle körperlichen und geistigen Kräfte für eine höchste Anstrengung. Er atmete tief durch, ballte die Fäuste und stieß einen angsterfüllten Schrei aus, der von den hohen Deckenbalken der Newgate-Kapelle widerhallte. »Feuer!«, heulte er. »Feuer, Schmerzen, Flammen und Qualen! All die bestialischen Foltern des Teufels erwarten euch. Ewiges Feuer, unvorstellbare Schmerzen, unaufhörliches Heulen und Zähneknirschen, und wenn das Leid schier unerträglich erscheint, wenn es scheint, als könne keine Menschenseele, nicht einmal eine so verdorbene wie die eure, solche Pein auch nur einen Augenblick länger ertragen, dann werdet ihr merken, dass dies erst der Anfang ist!« Er ließ die Worte nachklingen und senkte die Stimme zu einem Ton nachsichtiger Vernunft, kaum mehr als ein Flüstern. »Das ist erst der Anfang eurer Qual. Es ist erst der Anfang eurer Strafe, die euch die ganze Ewigkeit hindurch peinigen wird. Selbst wenn die Sterne vergehen und neue Firmamente entstehen, werdet ihr im Höllenfeuer schreien, das euer Fleisch martert, als würde es mit Haken zerrissen und mit Brandeisen versengt.« Er beugte sich über die Kanzelbrüstung und starrte mit großen Augen auf die schwarze Bank, auf der die beiden zum Tode Verurteilten neben dem schwarz lackierten Sarg saßen. »Ihr werdet ein Spielball der Dämonen sein«, prophezeite er ihnen, »gerüttelt, geschlagen, verbrannt, und zerrissen. Es wird eine Pein ohne Ende. Eine Qual ohne Unterlass. Eine Folter ohne Erbarmen.«
Durch die Stille in der Kapelle hallte das Hämmern der Arbeiter, die jenseits der hohen Fenster das Galgengerüst aufbauten, und Charles Cordays Schluchzen. Reverend Cotton richtete sich erfreut auf, weil es ihm gelungen war, einen der Übeltäter zu brechen. Er ließ den Blick über die Kirchenbänke schweifen, in denen andere Gefangene saßen, die teils ebenfalls die schwarze Bank erwartete, teils aber auch die Deportation nach Australien und in die Vergessenheit. Er schaute hinauf zu der Empore für die Öffentlichkeit, die wie stets am Tag vor einer Hinrichtung voll besetzt war. Die Gläubigen auf der Empore bezahlten für das Privileg, die zum Tode Verurteilten bei ihrem letzten Seelenamt zu sehen. Es war heiß an diesem Tag, und einige Frauen auf der Empore hatten sich vorher mit Fächern Kühlung verschafft, aber nun flatterte kein bemalter Karton mehr. Alle waren still, reglos, wie gebannt von den Grauen erregenden Worten, die der Ordinarius wie ein verhängnisvolles Spinnennetz über den Köpfen der beiden Todgeweihten spann.
»Nicht ich prophezeie euch dieses Schicksal«, mahnte Reverend Cotton, »nicht ich sehe die Qualen eurer Seelen voraus, sondern Gott! Gott hat euch dieses Schicksal prophezeit! Bis in alle Ewigkeit werdet ihr vor Schmerz heulen, wenn die Heiligen sich am Ufer des kristallenen Flusses sammeln, um Gott zu preisen.« Charles Corday schluchzte mit gesenktem Kopf und zuckenden Schultern. Seine Fußeisen, die mit einem Eisenring um seine Taille verbunden waren, klirrten leise bei jedem Schluchzer. Der Gefängnisverwalter, der in seiner eigenen Familienbank hinter der schwarzen Bank saß, runzelte die Stirn. Er war sich nicht sicher, ob diese berüchtigten Predigten sonderlich dazu beitrugen, die Gefängnisordnung zu erhalten, denn sie jagten Männern und Frauen Angst und Schrecken ein oder forderten sie zu gottlosem Trotz heraus. Der Verwalter hätte einen stillen, würdigen Gottesdienst mit gedämpft gemurmelten Gebeten vorgezogen, aber London erwartete vom Ordinarius des Gefängnisses eine eindrucksvolle Vorstellung, und Cotton verstand es, diesen Erwartungen gerecht zu werden.
»Morgen«, donnerte Cotton, »werdet ihr auf die Straße geführt, ihr werdet aufschauen und Gottes strahlenden Himmel zum letzten Mal sehen, bevor man euch die Kapuze über die Augen zieht und die Schlinge um euren Hals legt und ihr den großen Flügelschlag des Teufels hört, der schon auf eure Seelen wartet. Rette mich, Herr, werdet ihr schreien, rette mich!« Er wedelte mit den Händen in Richtung Decke, als wolle er Gott ein Zeichen geben. »Aber es wird zu spät sein, zu spät! Eure Sünden, eure abscheulichen Sünden, eure eigene Verderbtheit wird euch an diesen grauenhaften Galgen gebracht haben, wo ihr am Strang enden werdet, ihr werdet ersticken, ihr werdet zucken, ihr werdet nach Atem ringen, aber dieser Kampf wird euch nichts nützen, Schmerz wird euch erfüllen! Und dann kommt die Finsternis, eure Seelen werden aufsteigen aus dieser irdischen Pein zum Jüngsten Gericht, wo euch Gott erwartet. Gott!« Cotton hob erneut seine plumpen Hände, dieses Mal demütig, und wiederholte: »Gott! Gott erwartet euch in all seiner Gnade und Herrlichkeit, und er wird euch prüfen! Er wird euch richten! Er wird euch wiegen und für zu leicht befinden! Morgen! Ja, morgen!« Er deutete auf Corday, der immer noch mit gesenktem Kopf dasaß. »Ihr werdet Gott erblicken. Ihr beide, so klar und deutlich, wie ich euch jetzt sehe, werdet ihr den gefürchteten Gott sehen, unser aller Vater, und er wird enttäuscht den Kopf schütteln und befehlen, euch aus seiner Gegenwart zu verbannen, weil ihr gesündigt habt. Ihr habt ihn beleidigt, der uns nie beleidigt hat. Ihr habt euren Schöpfer verraten, der seinen einzigen Sohn zu unserer Erlösung gesandt hat, und ihr werdet in die tiefsten Tiefen der Hölle geschleudert werden. In die Flammen, ins Höllenfeuer. In immerwährende Pein!« Er zog die Worte in die Länge zu einem bebenden Stöhnen, und als er auf der Empore eine Frau vor Angst seufzen hörte, wiederholte er den Satz: »In immerwährende Pein!« Das Letzte kreischte er, dann hielt er inne, damit die ganze Kapelle das Schluchzen der Frau auf der Empore hören konnte, beugte sich zur schwarzen Bank hinunter und flüsterte heiser: »Und ihr werdet leiden, o wie ihr leiden werdet, und euer Leiden, eure Qual beginnt morgen.« Seine Augen weiteten sich und seine Stimme wurde lauter: »Denkt daran! Morgen! Wenn wir, die wir auf Erden bleiben, unser Frühstück einnehmen, werdet ihr Höllenqualen leiden. Während wir Übrigen unsere Augen schließen und die Hände zum Gebet falten, um einem gütigen Gott zu danken, dass er uns unseren Porridge, unsere Eier mit Speck, unser Röstbrot und Koteletts, gebratene Leber oder sogar«, hier lächelte Reverend Cotton, denn er verlieh seinen Predigten gern eine persönliche Note, »oder vielleicht sogar scharfe Nierchen beschert, in eben diesem Augenblick werdet ihr euch in den ersten grauenvollen Schmerzen der Ewigkeit winden! Und bis in alle Ewigkeit werden diese Qualen immer schrecklicher werden, immer quälender, immer grauenvoller! Es wird kein Ende eures Leidens geben, und sie beginnen morgen.« Er beugte sich nun weit unter dem Baldachin der Kanzel vor, damit seine Stimme die schwarze Bank wie ein Pfeil träfe. »Morgen werdet ihr dem Teufel begegnen, von Angesicht zu Angesicht, und ich werde um euch weinen. Ich werde um euch zittern. Doch vor allem werde ich meinem Gott und Erlöser, unserem Herrn Jesus Christus, danken, dass mir euer Leid erspart bleiben und ich die Krone der Gerechten tragen werde, denn ich bin erlöst worden.« Er richtete sich auf und schlug die Hände an seine Brust. »Ich bin erlöst worden! Gerettet! Ich bin gesegnet mit der Gnade des Herrn, der allein uns unser Leid nehmen kann.«
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