Bernard Cornwell - Die Galgenfrist

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London im Jahre 1817: Mit harter Hand bemüht sich die Obrigkeit, Unruhen und Kriminalität einzudämmen. Hinrichtungen sind an der Tagesordnung, Tausende sterben am Galgen. Captain Rider Sandman, ein unverschuldet in finanzielle Not geratener Gentleman, erhält vom Innenministerium den Auftrag, das Gnadengesuch von Charles Corday zu prüfen, der wegen Mordes an einer Gräfin zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. Niemand zweifelt an der Schuld des Malers, auch Sandman hält seinen Auftrag für eine reine Formsache – bis ihm erhebliche Zweifel kommen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn die Hinrichtung soll schon in sieben Tagen erfolgen. Doch die neuerlichen Ermittlungen werden nicht von allen Befragten gerne gesehen, und als der mysteriöse Seraphim Club Sandman eine hohe Bestechungssumme anbietet, die all seine Probleme auf einen Schlag lösen könnte, ist er sich sicher, auf der richtigen Spur zu sein …
Der Autor
Bernard Cornwell wurde 1944 in London geboren. Nach seinem Geschichtsstudium arbeitete er als Reporter für die BBC. 1980 folgte er seiner Frau in die USA, und weil er keine Arbeitserlaubnis erhielt, begann er historische Romane zu schreiben. Bernard Cornwell lebt auf Cape Cod, USA.
© 2001 by Bernard Cornwell
Titel der englischen Originalausgabe:
Gallows Thief

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Für Antonia und Jef Prolog Sir Henry Forrest Bankier und Ratsherr der - фото 1

Für Antonia und Jef

Prolog

Sir Henry Forrest, Bankier und Ratsherr der Stadt London, musste würgen, als er den Presshof betrat, so grauenhaft war der Gestank, schlimmer als die üblen Dünste der Abwässer, die aus dem Fleet Ditch in die Themse rannen. Es war ein Gestank wie aus den Jauchegruben der Hölle, ein atemraubender Modergeruch, der einem die Tränen in die Augen trieb. Unwillkürlich prallte Sir Henry zurück, drückte sein Taschentuch vor die Nase und hielt den Atem an aus Angst, sich übergeben zu müssen.

Sir Henrys Führer kicherte: »Ich merke den Geruch gar nicht mehr, Sir, aber ich schätze, auf seine Art ist er verteufelt schlimm, verteufelt schlimm. Passen Sie auf die Stufen auf, Sir, Vorsicht.«

Behutsam ließ Sir Henry das Taschentuch sinken und zwang sich zu fragen: »Woher kommt der Name Presshof?«

»Früher hat man hier die Gefangenen ausgepresst, Sir. Zerquetscht, Sir. Mit Steinen beschwert, Sir, um sie dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. Das machen wir heute nicht mehr, Sir, leider, darum lügen sie auch wie die indischen Teppichhändler, Sir, wie die indischen Teppichhändler.« Der Führer, ein dicker Gefängniswärter, trug eine Lederhose, eine fleckige Jacke und einen kräftigen Knüppel. Er lachte. »Hier drinnen gibt es nicht einen Schuldigen, Sir, nicht wenn Sie sie selbst fragen!«

Sir Henry bemühte sich so flach zu atmen, dass er die üble Mischung aus Gestank, Schweiß und Moder nicht riechen musste. »Gibt es hier sanitäre Anlagen?«, erkundigte er sich.

»Ganz modern, Sir Henry, ganz modern. Newgate hat richtige Kanalisation, Sir. Wir verwöhnen sie, wirklich, aber sie sind dreckige Viecher, Sir, dreckig. Sie beschmutzen ihr eigenes Nest, Sir, das machen sie, sie beschmutzen ihr Nest.« Der Wärter verschloss und verriegelte das Tor, durch das sie eingetreten waren. »Die zum Tode Verurteilten können sich über Tag frei im Presshof bewegen, Sir«, erklärte er, »außer an Feiertagen und Festtagen wie heute.« Sein Grinsen verriet Sir Henry, dass es als Scherz gemeint war. »Da müssen sie warten, bis wir fertig sind, Sir. Wenn Sie nach links gehen, treffen Sie Mister Brown und die anderen Herren im Aufenthaltsraum.«

»Aufenthaltsraum?«, fragte Sir Henry.

»Wo die Verurteilten sich über Tag aufhalten, Sir«, erklärte der Schließer, »außer an Feiertagen und Festtagen wie heute, Sir, und hinter den Fenstern da links sind die Salzkisten, Sir«.

Am Ende des langen, schmalen Hofes sah Sir Henry auf drei Stockwerken fünfzehn vergitterte Fenster, klein und dunkel. Die Zellen, die sich dahinter verbargen, wurden Salzkisten genannt. Warum sie diesen Namen trugen, wusste er nicht, wollte aber auch nicht fragen, um den Wärter nicht zu weiteren groben Scherzen zu verleiten. Allerdings wusste Sir Henry, dass man die fünfzehn Salzkisten auch als Wartezimmer des Teufels und Vorhölle bezeichnete. Es waren die Todeszellen von Newgate. Ein zum Tode Verurteilter, von dem hinter den dicken Gitterstäben nur die Augen als mattes Schimmern zu erkennen waren, starrte Sir Henry an, der sich umdrehte, als der Schließer die schwere Tür zum Aufenthaltsraum öffnete. »Sehr verbunden, Sir Henry, sehr verbunden.« Zum Zeichen seiner Ergebenheit tippte der Wärter sich mit dem Knöchel an die Stirn, als Sir Henry ihm als Dank für sein Geleit durch das Labyrinth der Gefängniskorridore einen Schilling in die Hand drückte.

Sir Henry trat in den Aufenthaltsraum, wo ihn der Gefängnisverwalter William Brown begrüßte, ein verhärmter Mann mit Glatze und schweren Hängebacken. Neben ihm stand, salbungsvoll lächelnd, ein untersetzter Priester in altmodischer Perücke, Soutane, fleckigem Chorrock und Beffchen. »Erlauben Sie mir, Ihnen den Ordinarius vorzustellen«, erklärte der Gefängnisverwalter. »Das ist Reverend Doktor Horace Cotton. Sir Henry Forrest.«

Sir Henry nahm seinen Hut ab. »Zu Ihren Diensten, Doktor Cotton.«

»Zu Ihren Diensten, Sir Henry«, antwortete Doktor Cotton übertrieben nach einer tiefen Verbeugung. Die altmodische Perücke des Ordinarius bestand aus drei plumpen Wollbüscheln, die sein käsiges Gesicht rahmten. Auf seiner linken Wange prangte ein nässender Pickel, und zum Schutz gegen den Gefängnisgestank hatte er sich einen kleinen Strauß Blumen unmittelbar oberhalb des Beffchens um den Hals gebunden.

»Sir Henry ist in Amtspflichten hier«, vertraute der Gefängnisverwalter dem Priester an.

»Ach!« Doktor Cottons Augen weiteten sich, als wolle er andeuten, dass Sir Henry ein seltener Genuss bevorstünde. »Ist das Ihr erster Besuch dieser Art?«

»Ja«, gestand Sir Henry.

»Ich bin überzeugt, Sie werden es erbaulich finden, Sir Henry«, sagte der Priester.

»Erbaulich!« Sir Henry fand diese Wortwahl unangemessen.

»Diese Erfahrung hat manche Seele zu Christus bekehrt«, erklärte Doktor Cotton streng, »wahrhaftig, zu Christus bekehrt!« Lächelnd verbeugte er sich, als der Gefängnisverwalter Sir Henry zu den anderen sechs Besuchern führte, die zum traditionellen Newgate-Frühstück erschienen waren. Beim Letzten dieser Gäste, Matthew Logan, bedurfte es keiner Vorstellung, da er und Sir Henry alte Freunde waren. Als Ratsherren galten die beiden heute Morgen als Ehrengäste, denn die Ratsversammlung war der offizielle Dienstherr des Gefängnisses Newgate. Verwalter und Ordinarius des Gefängnisses, deren Gehälter von den Ratsherren festgelegt wurden, drängten den beiden Herren Kaffee auf, aber beide lehnten ab. Logan nahm Sir Henrys Arm und führte ihn an den Kamin, wo sie ungestört vor glimmenden Scheiten und rauchender Asche einige Worte miteinander wechseln konnten.

»Bist du sicher, dass du dir das ansehen möchtest?«, fragte Logan seinen Freund besorgt. »Du siehst verflixt blass aus.«

Sir Henry war ein gut aussehender Mann, groß, schlank, von gerader Haltung und klugen, anspruchsvollen Zügen. Er war ein reicher, erfolgreicher Bankier. Sein vorzeitig ergrautes Haar – sein fünfzigster Geburtstag lag erst wenige Tage zurück – verlieh ihm etwas Distinguiertes. Als er nun vor dem Kamin im Aufenthaltsraum des Gefängnisses stand, wirkte er jedoch alt, gebrechlich, ausgemergelt und kränklich. »Das liegt an der frühen Morgenstunde, Logan«, erklärte er, »so kurz nach Tagesanbruch bin ich nie in bester Verfassung.«

»Schon.« Logan gab vor, der Erklärung seines Freundes Glauben zu schenken. »Aber nicht jeder ist für diese Erfahrung geschaffen, obwohl ich sagen muss, dass das Frühstück im Anschluss sehr gut ist. Scharfe Nierchen. Ich bin schon zum zehnten oder elften Male hier, und das Frühstück hat mich noch nie enttäuscht. Wie geht es Lady Forrest?«

»Florence ist wohlauf, danke der Nachfrage.«

»Und deiner Tochter?«

»Eleanor wird ihren Kummer sicher überleben«, erklärte Sir Henry trocken. »An gebrochenem Herzen ist noch niemand gestorben.«

»Außer in Gedichten?«

»Verdammte Gedichte, Logan«, sagte Sir Henry lächelnd. Er hielt seine Hände ans Feuer, das darauf wartete, wieder zu Leben erweckt zu werden. Die Gefangenen hatten ihre Töpfe und Kessel seitlich daneben gestapelt, ein Häufchen angekohlter Kartoffelschalen kräuselte sich in der Asche. »Arme Eleanor«, sagte Sir Henry, »wenn es nach mir ginge, würde ich sie heiraten lassen, Logan, aber Florence will nichts davon hören. Vermutlich hat sie Recht.«

»Mütter wissen meist in solchen Dingen am besten Bescheid«, antwortete Logan leichthin. Das leise Gemurmel im Raum erstarb, und die Gäste wandten sich einer verriegelten Tür zu, die sich plötzlich mit schrillem Quietschen geöffnet hatte. Einen Herzschlag lang erschien niemand, und alle Gäste hielten offenbar den Atem an, bis unter hörbarem Aufseufzen ein Mann mit einer dicken Ledertasche hereinstapfte. Nichts an seinem Äußeren rechtfertigte dieses Seufzen. Er war untersetzt, hatte ein gerötetes Gesicht und trug braune Gamaschen, eine schwarze Kniebundhose und einen schwarzen Rock, der sich über seinem vorgewölbten Bauch spannte. Respektvoll zog er einen schäbigen braunen Hut, als er die wartenden Adeligen bemerkte, entbot ihnen aber keinen Gruß und wurde auch von keinem der Anwesenden gegrüßt.

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