»Das Zepter!«, rief sie.
Yeats stürzte los, um es zu retten. Weil die Erschütterungen stärker wurden, knickte ihm aber das rechte Bein ein, und er stürzte rückwärts in den Schacht, der sich im Boden aufgetan hatte. In letzter Sekunde gelang es ihm, sich an der Kante festzuhalten. Serena sah die Finger über den Rand ragen. Er klammerte sich mit aller Kraft am Steinboden fest.
Conrad hob den Obelisken auf und ergriff Serenas Hand. »Versuch ihn zu halten!«
Fest an Conrad gekettet, lugte sie über den Rand und sah, wie Yeats über dem Höllengrund schwebte.
Ihr war klar, dass sie nicht die Kraft hatte, ihn hochzuziehen, aber sie rief Conrad zu: »Vielleicht kann ich ihn mit einem Ruck etwas hochziehen, damit er es dann alleine schafft herauszuklettern.«
Sie streckte die Hand aus, da bebte es erneut. Leonids Leiche glitt in den Schacht und schlug gegen Yeats. Seine Finger verschwanden vom Schachtrand, und Conrad stieß einen Schrei aus.
»Dad!«, brüllte er.
Conrad schob Serena zur Seite und sah nun selbst in den Schacht. Wie gelähmt stand er da und versuchte zu begreifen, dass sein Vater nun wirklich weg war.
Serenas Blick streifte durch die Kammer. Alles um sie herum bebte. Irgendwie wollte sie hier nicht raus. Aber sie wollte auch nicht bleiben, um dann jämmerlich zu verglühen. Sie legte Conrad eine Hand auf die Schulter und sagte: »Wir sollten jetzt nicht zu lange um die trauern, denen wir in Kürze folgen werden.«
Das reichte, um Conrad aus seinen Gedanken zu reißen.
»Die Kammer wird sich in ein paar Minuten in einen Schmelzofen verwandeln«, sagte er, hob Yeats' Rucksack auf und warf ihn sich über die Schulter. »Zurück zum großen Gang!«
Sie rannten zum Außengang. Das Rumpeln war da weniger laut, wie Serena bemerkte, als sie den langen Tunnel hinter Conrad herlief. Als sie im großen Gang ankamen, blieb Conrad stehen und sah nach oben.
»Jetzt wäre es an der Zeit für ein kleines Stoßgebet«, sagte er.
»Wieso?«
»Ich glaube, die P4 lässt heiße Dämpfe durch die Schächte ab. Das Eis draußen müsste daraufhin schmelzen. Und das Wasser wird dann durch das Gangsystem hier geschleust.«
Jetzt blickte auch sie blinzelnd den Gang hoch. In einiger Entfernung wirbelte oben ein Schatten. Sie spürte die ersten Wasserspritzer auf der Wange. Sie wusste, was jetzt kommen würde.
»O mein Gott!«, schrie sie, als das Wasser auf einmal in riesigen Kaskaden den Gang herabstürzte. »Wir müssen irgendwo Deckung finden!«
Sie zerrte ihn zur Kammer zurück.
»Warte noch«, sagte er. »Jetzt würden wir darin verschmoren.«
Das Wasser im Tunnel stand schon kniehoch. Auf halbem Weg zurück in die Kammer reichte es ihnen bereits bis zur Hüfte. Sekundenschnell schwoll das Wasser zu einem reißenden Sturzbach an und spülte sie mit.
Serena wollte sich an Conrad festhalten, bekam ihn aber nicht mehr zu fassen. Sie geriet in Panik und schlug verzweifelt um sich, schluckte Wasser und rang nach Luft. Sie würden ertrinken. Sie würden weggespült werden und ertrinken. Gott hatte ihr bestimmt einen anderen Tod zugedacht, ging es ihr durch den Kopf. Aber dann erinnerte sie sich an das Mädchen im Eis und wurde sich bewusst, dass sie auf der Welt schon zu viele Schreckensmienen gesehen hatte, um sich noch sicher zu sein, was Gott wirklich mit ihr vorhatte. Sie wusste nur, dass sie leben wollte und auch wollte, dass Conrad am Leben blieb.
»Gott steh uns bei«, betete sie.
Ein Schatten legte sich über sie, und als sie aufblickte, sah sie Conrad im Tunnel am Eingang zur Sternenkammer stehen, wo ihm das strudelnde Wasser bis zu den Knien ging. In einer Hand hielt er den Obelisken.
»Halt dich daran fest«, brüllte er gegen das rauschende Wasser an.
Sie griff hoch, umklammerte den Obelisken und ließ sich von Conrad hochziehen. Sie spürte ein Ziehen am Fußgelenk und sah ein blutverschmiertes Gesicht aus dem Wasser auftauchen.
Es schrie ihr etwas Unverständliches zu, und sie versuchte, das Zerren abzuschütteln. Aber es zog fester an ihrem Bein. Plötzlich erkannte sie das entstellte Gesicht von einem von Kowitschs Leuten aus der oberen Kammer.
»Zieh fester!«, schrie sie Conrad zu.
Als sie über den Rand war, drehte sie sich um und wollte dem Russen helfen. Kaum hatten die verbrannten Beine des Soldaten die Kante erreicht, hörte sie Conrad rufen.
»Beeil dich!«
Sie sah noch, wie sich ein Teil des Zugangs zur Sternenkammer hinter Conrad schloss. Eine gewaltige Granitplatte hatte sich von der Decke gelöst. Conrad duckte sich mit dem Obelisken in der Hand in die Kammer hinein, die sich in der Zwischenzeit offensichtlich abgekühlt hatte, und winkte sie zu sich.
Serena schleppte den Russen gerade durch den Eingang, da erschütterte ein gewaltiges Krachen den Tunnel. Sie blickte zurück und sah, wie sich die Fallsteintür hinter ihnen schloss und das Wasser abschnitt. Sie blieb stehen, schnappte nach Luft und hörte Conrad ihren Namen rufen. Er deutete zur Decke. Drei weitere Türplatten, größer als die zuvor, lösten sich. Die zweite direkt über ihr.
Sie taumelte vorwärts. Ihr voll gesogener Parka zog sie wie Beton nach unten. Sie schleppte den Russen, der sich jetzt nicht mehr bewegte, mühsam weiter.
»Serena!«, rief Conrad.
Die dritte Tür fiel herunter.
Auf allen vieren zerrte sie den Russen über den Boden. Conrad umklammerte ihre Füße wie Eisenfesseln und zog. Die Knie rutschten ihr weg, und sie landete flach auf dem Bauch.
»Lass ihn los«, rief Conrad.
»Nein!« Serena umklammerte die kalten Hände des Russen, während Conrad sie hereinzog.
Der Russe war schon halb durch, da schnitt ihn die steinerne Falltür in zwei Teile.
Plötzlich merkte Serena, dass sie nur noch die Hälfte des Russen festhielt. Dennoch fiel es ihr schwer loszulassen, zu akzeptieren, dass sie ihn nicht mehr retten konnte.
Mit einem knirschenden Geräusch fiel die vierte und letzte Tür. Sie versuchte angestrengt, sich aus dem kalten Griff des nun beinlosen Körpers zu lösen. Schließlich öffnete sich die Hand, und in letzter Sekunde zog sie jemand hinein, kurz bevor die Granittür mit einem dumpfen Knall niederging.
Serena drehte sich zu Conrad um, um ihm zu danken. Er lag der Länge nach auf dem Boden. Seine Haare waren voller Blut. Beim Ziehen musste er wohl mit dem Hinterkopf gegen die Falltür geschlagen sein.
»Conrad!«, rief sie. »Conrad!«
Sie kroch zu seinem bewegungslosen Körper. Er lag ganz ruhig da. Die Kammer bebte nun so stark, dass sie seinen Puls nicht fühlen konnte. Der Obelisk lag neben seinem Rucksack – vielmehr neben Yeats' Rucksack –, und sie hob ihn auf.
Wieder ein Beben. Sie suchte an der wackelnden Wand Halt, bis diese glühend heiß wurde. Sie löste sich von der Wand, stolperte zitternd weiter und gab sich alle Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
Sie war jetzt auf sich allein gestellt. Sie fiel mit dem Obelisken im Arm auf die Knie und betete zu Gott, dass das Beben aufhören möge. Sie versuchte krampfhaft, nicht an das Mädchen im Eis zu denken. Ein Krachen erfüllte den Raum, und als sie aufsah, schien sich die Kammer um 180 Grad zu drehen.
Abstieg, 9. Stunde 21 U.S.S. Constellation
Als der gewaltige Gletscher ins Wasser stürzte, dröhnte es wie bei einer Bombenexplosion. Admiral Warren wurde umgeworfen, und das Glas des Ruderhauses der U.S.S. Constellation zersprang.
Sekunden später donnerte es erneut, und Warren hörte, wie die riesigen Wellen über den Bug krachten. Glasstücke lagen überall auf dem Flugzeugdeck verstreut, wo 76 Kampfjets an ihren Ketten zerrten.
»Admiral?«
Warren drehte sich um. Es war der Funker.
»Eine Blitzmeldung.« Der untergeordnete Offizier reichte ihm das Klemmbrett und hielt eine rote Taschenlampe über die Meldung, sodass Warren sie lesen konnte.
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