»Du meine Güte«, sagte Warren. »Die geologischen Überwachungssensoren von McMurdo haben gerade ein Beben der Stärke elf registriert.«
»Admiral!«, rief ein Lieutenant.
Warren blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sich eine schlammgrüne Wand aufbäumte, auf den Bug herabschoss, das Flugzeugdeck überspülte, die Kampfjets wie Spielzeugflieger umherschleuderte und in die Insel donnerte, in der er sich gerade befand. Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ sein Trommelfell platzen. Die Wassermassen zerstörten die Kommandobrücke. Verzweifelt hielt er nach etwas Ausschau, woran er sich festhalten konnte.
Die ganze Abteilung lief mit Wasser voll. Warren klammerte sich an eine Stange des Kontrollpultes und drückte den Rücken fest an die Wand, um sich Halt zu verschaffen. Bei ruhiger See ragte der über 80.000 Tonnen verdrängende Flugzeugträger 70 Meter aus dem Wasser. Aber diese Wogen hoben das Schiff wie eine leere kubanische Zigarrenschachtel.
Warren hustete Wasser aus und rief seinen Leuten zu: »Drehen und auf die Wellen zuhalten, sonst kentern wir!«
Er lauschte angestrengt, um das »Aye, Sir!« vom Steuermann zu vernehmen, aber es ging im Krachen der Wassermassen unter.
Als die Welle brach, sah er über die Brücke und sichtete zwei auf dem Wasser treibende Körper. Die anderen waren ins Meer geschwemmt worden. Er rannte die Treppe zum Ruderhaus runter und hielt sich dabei an der Reling fest. Das Ruderhaus war leer.
Er blickte zur Küste und sah, wie sich die graue Masse wieder auftürmte, eine Welle so hoch wie ein Kliff. Er griff nach der Kette, die eigentlich für eines seiner 27 Tonnen schweren Flugzeuge reserviert war, hievte sie sich auf die breiten Schultern und lief damit zum Flugzeugdeck.
Menschen und Flugzeuge schleuderten über das schräg liegende Deck. Eine weitere Welle schien den Flugzeugträger in den Himmel zu heben. Die Kette fest umklammernd, flog Warren durch die Luft. Das Wasser krachte auf das Deck und zwang ihn zu Boden, aber er hatte die rettende Reling fest im Blick. Wenn er den Abstand zwischen den Wellen nutzte, um das Geländer zu erreichen, konnte er sich möglicherweise dort anketten.
Die nächste Woge zerstörte den JSF-Kampfjet mit dem doppelten Seitenleitwerk vor ihm. Warren duckte sich, um nicht von dem abgebrochenen Flügel durchschnitten zu werden. Mit wackeligen Beinen zwang er sich, zunächst stehen zu bleiben, und raste dann zwischen zwei Wellen durch das spritzende Wasser auf die Reling zu.
Irgendwie wollte er sich am liebsten fallen lassen, sodass er nicht mehr kämpfen musste, sondern einfach sterben konnte, aber er hielt sich auf den Beinen, bis er an der Reling anlangte. Er griff mit beiden Händen nach der schweren Kette, die er auf den Schultern mitgeschleppt hatte, und machte sich damit an der Reling fest, bevor die nächste Welle herankrachte.
Der Wind und der Gischt fegten über das Deck. In Todesangst klammerte Warren sich an die Reling. Die Welle brach über dem Bug, und in dem Augenblick, als Warren mit voller Wucht hochgeschleudert wurde, rastete die Kette ein. Sie hielt.
Eine Weile stand er so da und war sich sicher, dass sein Arm abreißen und er selbst wie die restlichen Flugzeuge weggespült würde. Aber mit Gottes Hilfe, schwor er sich, würde er diese verheerende Flut überleben, sei es auch nur, um es Yeats heimzuzahlen. Dann, ganz langsam, neigte sich das Schiff, und er hörte das Knirschen der massiven Eisenträger. In der gewaltigen Woge war das ganze Schiff kurz davor zu kentern.
»Yeats, du verdammter Mistkerl!«
Tagesanbruch 22 minus 15 Stunden
Der Whiskey brannte in seiner Kehle. Conrad, der sich in der Sternenkammer der P4 befand, musste husten. Er sah Serena an, die neben ihm saß. Sie hatte das nasse Haar nach hinten gestrichen und sah blass aus.
»Jack Daniel's?«, fragte er heiser.
»Habe ich in Yeats' Rucksack gefunden.« Sie berührte sein Gesicht. Die Berührung schien seine Lebensgeister zu wecken. »Du bist ganz heiß.«
»Ist überhaupt ziemlich heiß hier.« Conrad stöhnte auf. Unter schrecklichen Schmerzen oben am Kopf setzte er sich auf. »Wo ist der Obelisk?«
»Weiß ich nicht«, sagte Serena.
»Er war vorhin noch hier.« Hastig suchte Conrad die Sternenkammer ab. Der leere Altar stand mitten auf der Kartusche. Ihm wurde schwindlig, weil ihm der Albtraum wieder ins Gedächtnis kam: der Boden, der sich geöffnet hatte. »Wo ist Yeats?«
»Im Bodenschacht verschwunden.«
Der Schacht unter dem Altar hatte sich eindeutig wieder geschlossen. Er ist tot, dachte Conrad. Er merkte, wie er zitterte und sein Herz schneller schlug.
»Das mit deinem Vater tut mir Leid.«
Er sah Serena in die Augen. Sie meinte es ernst, dachte er. Aber es lag auch etwas Sonderbares in ihrem Blick. Etwas war anders. Es war nicht unbedingt Angst, eher Distanz. Sie hatte hoffentlich nicht Yeats' bizarre Enthüllung über seine Herkunft ernst genommen. Das war eindeutig eine psychologische Masche gewesen.
»Du glaubst doch nicht etwa …«
»Wer immer du auch sein magst, Conrad, du stehst jedenfalls nicht auf der Liste der Auserkorenen, nicht auf der Gottes, nicht auf der von den Atlantiserbauern und auch nicht auf meiner«, sagte sie. »Du wirst genauso wie andere für deine Sünden büßen. Diesmal sieht es allerdings so aus, als ob du uns alle schnurstracks mit in die Hölle nimmst. Das und nichts anderes glaube ich.«
Conrad starrte sie fassungslos an. »Du hörst wohl nie auf, was? Du musst wohl immer das letzte Wort haben.«
»Genau.«
Conrad bemerkte auf einmal, dass auf dem Boden etwas leuchtete. Er wollte es berühren. War das etwa Sonnenlicht? Er blickte zur Decke und blinzelte. Die zwei verborgenen Schächte, die er dort zuvor schon vermutet hatte, waren jetzt weit geöffnet. Sonnenstrahlen zwängten sich durch den Südschacht und trafen genau dort, wo der Obelisk gestanden hatte, auf den Boden.
Ob die Eisschlucht oben in sich zusammengestürzt ist?, fragte er sich beunruhigt. Was war mit der Eisstation Orion? Ein schrecklicher Gedanke schoss ihm ins Bewusstsein: Hatten die geothermischen Winde der P4 das Eis zum Schmelzen gebracht oder womöglich sogar die Erdkruste verschoben? Er wischte den Gedanken sofort beiseite. Wäre wirklich eine solche Katastrophe geschehen, wären Serena und er schon längst tot.
Conrad reckte den Hals zu den Schächten hin, die sich nun in der Krümmung der Süd- und der Nordwand befanden. Er könnte einen der Schächte hochklettern, nur so gelangte man nach draußen. Aber die Schächte schienen steil zu sein. Sie führten mindestens 300 Meter hoch, Gott weiß wohin.
»Ich muss mir das draußen ansehen«, sagte er zu Serena.
Sie nickte bedächtig, als ob sie, schon lange bevor er aus der Ohnmacht erwacht war, zum gleichen Schluss gekommen wäre. »Um den Schacht hochzuklettern, wirst du die hier brauchen.«
Sie hielt ihm an Händen und Knien zu befestigende Saugnäpfe hin.
»Wo hast du die denn her?«
»Alles aus dem Rucksack deines Vaters. Er schien für jede Situation gerüstet zu sein.«
»Für jede wohl doch nicht«, sagte Conrad und blickte zum Altar hinüber, unter dem sein Vater im Schacht verschwunden war.
Conrad stand auf, nahm die Kletterhilfen und ging quer durch den Raum zum Südschacht. Er sah direkt in die Sonne und musste blinzeln. »Sieht so aus, als ob sich der Polarsturm verzogen hätte.«
»Ja, scheint so zu sein.« Serena klang nicht sehr überzeugt. Sie wollte es vielleicht auch gar nicht wissen.
»Wenn die Rettungsmannschaften nach uns suchen, müssen wir uns mit einem Signal bemerkbar machen«, sagte er und befestigte die Kletterhilfen mit den Saugnäpfen. »Ich muss den Schacht hochklettern. Ich nehme ein Seil mit, falls es der einzige Weg nach draußen ist und du nachkommen musst. In der Zwischenzeit versuchst du mit Yeats' Funkgerät die Eisstation zu erreichen und sagst denen, was passiert ist.«
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