Yeats hielt ihr abrupt den Lauf seiner Glock ins Gesicht. »So wie Eisenhower 1945 an der Elbe Halt machte, statt die Russen aus Berlin zurückzudrängen?«, fragte er. »Oder wie Nixon, der die Mars-Mission 1969 den Bach runtergehen ließ? Da bin ich anderer Meinung. Damals hätte man Entscheidungskraft gebraucht, genau wie jetzt. Ich bleibe nicht auf halbem Weg stehen.«
Conrad blickte zu Serena, die sich aus Yeats' Griff zu befreien versuchte. »Tu's nicht, Conrad. Ich schwöre …«
»Schwör lieber nicht, Serena«, sagte er. »Sonst brichst du noch dein Gelübde.«
Er griff mit beiden Händen nach dem Obelisken, überzeugt, dass er eine so einmalige Chance einfach wahrnehmen musste. Wenn er diesen Augenblick nicht nutzte, würde sein Leben fortan nichts mehr wert sein.
»Bitte, Conrad.«
Der Obelisk ließ sich ganz einfach aus dem Altar lösen. Conrad hob ihn hoch und lächelte Serena triumphierend zu.
»Siehst du«, sagte er erleichtert. »Das war doch alles gar nicht so …«
Das Ende des Satzes wurde durch einen ohrenbetäubenden Lärm abgeschnitten.
»O mein Gott«, hauchte Serena, während das Donnern über ihr immer stärker wurde.
Die gewölbten Wände der Halle drehten sich in atemberaubender Geschwindigkeit wie eine kosmische Spirale kurz vor dem Zerbrechen. Dann hörte das Kreisen plötzlich auf. Die Sternbilder kamen zum Stillstand, und eine explosionsartige Druckwelle erschütterte die Pyramide.
Abstieg, 9. Stunde 19 Eisstation Orion
Oben in der Eisstation Orion spielte O'Dell mit Wladimir Lenin und zwei anderen Russen gerade Poker, da fing der Wodka in ihren Plastiktassen zu zittern an. Die Sirenen heulten auf.
O'Dell sah den verblüfften Wladimir an. Diesmal konnten es nicht die Russen sein. Er raste aus dem Bereitschaftsraum hinaus. Wladimir folgte ihm.
Als O'Dell in die Kommandozentrale gerannt kam, stand bereits eine Gruppe Amerikaner und Russen dicht gedrängt um den Hauptmonitor herum. Auf dem Display blinkte das Wort sonnenereignis.
»Da kann was nicht stimmen«, sagte O'Dell, als er zu den Leuten trat, die mit betroffener Miene dastanden.
Einer der Lieutenants holte das Kontrollsystem CELSS, das Controlled Environmental Life Support System, auf den Bildschirm, das im Weltraum wie in der Antarktis lebensnotwendig war. Der Lieutenant lokalisierte den Sensor, der diese anormale Anzeige ausgelöst hatte.
»Die Messungen kommen von unten, Sir«, sagte er. Weil die Erschütterungen stärker wurden, musste er sich am Kontrollpult festhalten. »Die einzig mögliche Erklärung, die mir einfällt, ist das SP-100.«
Unwillkürlich warf O'Dell seinem russischen Kollegen einen nervösen Blick zu. Gott sei Dank verstand dieser nicht, was der Lieutenant gesagt hatte, handelte es sich bei dem SP-100 doch um das kompakte Atomkraftwerk der Eisstation Orion, ein 100-Kilowatt-System, das ein paar hundert Meter entfernt unter einer Schneedüne verborgen war.
»Mein Gott.« O'Dell holte tief Luft. »Was sagen die Messdaten?«
»In die äußeren Offiziersgebäude ist eine Strahlung von 270 rem eingedrungen, Sir. Hier in der Kommandozentrale sind es 65 rem, wobei unsere Leute 15 rem aufnehmen. Wir sind immer noch unter dem Grenzwert.«
Es war eher das Beben, das O'Dell und die Russen beunruhigte.
»Und jetzt?«
»Wir haben keine andere Wahl mehr, Sir«, sagte der Lieutenant. »Wir müssen uns in die Hundehütte zurückziehen.«
Die ›Hundehütte‹ war ein mobiles Schutzmodul unter der Kommandozentrale und den Versorgungsspeichern, das durch die Lufthülle der Kommandozentrale vor den SP-100-Protonen geschützt war.
»Sorgen Sie dafür, dass möglichst die ganze Mannschaft hineinkommt«, befahl O'Dell.
Die amerikanischen Soldaten führten den Befehl sofort aus und verließen die Kommandozentrale in Reih und Glied. Die Russen hingegen rasten angesichts der nun leeren Zentrale in entgegengesetzter Richtung zu den äußeren Luftschleusen, um zu ihren Charkowtschankas zu gelangen.
»Warten!«, rief O'Dell und rannte hinterher.
Aber sie hatten schon die Türen des inneren und äußeren Bereichs aufgebrochen, und als er die Luftschleuse erreichte, waren sie weg. Eisiger Wind schlug ihm ins Gesicht. Er schnappte sich einen Polaranzug, Schutzbrille und Handschuhe aus dem nächsten Lagerraum und rannte raus.
Die Russen starteten gerade ihre Charkowtschankas. O'Dell lief auf die bereitstehenden Hägglunds-Transporter zu und griff nach der erstbesten Kabinentür.
Glauben die vielleicht, sie könnten einfach so abhauen?, dachte er. Er wollte mit einem der Hägglunds hinterher, um sie zurückzuhalten. Es würde ihm jetzt gerade noch fehlen, dass Yeats oder Kowitsch oder die Vereinten Nationen ihn für den Tod weiterer Russen verantwortlich machten.
Er wollte gerade in den Hägglunds klettern, da verspürte er einen Ruck. Er sah auf den Boden. Im Eis schoss ein Riss an seinen Füßen vorbei. Etwas Spitzes klammerte sich an seinen Handschuh, und er erstarrte vor Entsetzen. Es war Nimrod, Yeats' Hund, der ihn wie wild geworden wegzuzerren versuchte.
»Verschwinde!«, brüllte er und öffnete die Tür, aber Nimrod sprang vor ihm in die Kabine.
O'Dell hörte noch weitere donnernde Explosionen, dann sah er die Basis wie einen Eisberg abbrechen. Es krachte, und zu seinem Schrecken riss das Eis unter ihm wie ein Spinnennetz auf.
Das Eis schmolz!
Er sprang ins Führerhaus. Kaum hatte er die Tür geschlossen, machte der Hägglunds einen Ruck vor und zurück. Überall waren jetzt Risse im Eis zu sehen. Das ist jetzt das Ende, dachte er, als die Fiberglas-Kabine in das strudelnde Eiswasser fiel und weggespült wurde. Er merkte, wie der Transporter sich auf und ab bewegte. Ihm blieb vor Freude fast die Luft weg. »Das verdammte Ding schwimmt!«, rief er Nimrod zu, der wie verrückt über die Sitze sprang.
Die russischen Charkowtschankas jedoch verschwanden wie Steine in den sprudelnden Wassermassen.
Verzweifelt machte O'Dell die Scheibenwischer an. Als die Wasserfluten kurz weggewischt wurden, erblickte er eine aufgewühlte Landschaft. Die Eisstation Orion war verschwunden. Im Himmel hatte sich eine pilzförmige Wolke gebildet. In Panik dachte er erst, der Reaktor wäre in die Luft gegangen, aber der SP-100 hatte nicht die Kapazität, eine derartige Zerstörung auszulösen.
Eine Druckwelle warf ihn mit dem Kopf auf den Boden, direkt unter das Armaturenbrett. Er hörte, wie sein Schädel auf etwas Spitzes krachte, als die Kabine wild herumwirbelte. Nimrod bellte unaufhörlich.
20 Abstieg, 9. Stunde
Das Donnern in der Kammer mit dem Obelisken wurde so laut, dass Serena das eigene Wort kaum verstand. Sie brüllte Conrad an, der wie angewurzelt mit dem Zepter des Osiris in der Hand dastand.
»Stell es zurück!«, rief sie.
Conrad ging gerade auf den Altar zu, da öffnete sich der Boden unter ihm plötzlich, und eine lodernde Feuersäule schoss hoch, die Oberst Kowitsch sofort in einen glühenden Klumpen verwandelte.
Conrad sprang von dem klaffenden Loch zurück. Der Altar verschwand in einem rot glühenden Schacht. Ganze Fetzen des Russen flogen als Staubwolke durch die Luft. Der Obelisk fiel auf den Boden.
Serena beugte sich, um ihn aufzuheben, griff aber zu weit nach vorn und hing plötzlich gefährlich über der Kante. Furchtbare Sekunden lang schwebte sie über dem Höllengrund und spürte, wie die sengende Hitze auf ihren Wangen brannte. Schließlich zog Conrad sie mit einem Ruck vom Rand zurück.
Für einen kurzen Augenblick lag sie geborgen in seinen Armen und blickte dankbar in seine besorgten Augen. Noch bevor sie richtig Luft holen konnte, erschütterte jedoch ein Beben die Kammer und riss ihnen den Boden unter den Füßen weg. Der Obelisk glitt über den Boden.
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