Schweigend verließen sie das Flughafengebäude und bestiegen ein Taxi.
Im Zentrum der Stadt waren die Straßen vom Neonlicht gleißend hell erleuchtet und vom Automobilverkehr so gründlich verstopft, daß das Taxi erst nach vierzig Minuten vor der Pension Kleist hielt.
«Hier trennen wir uns. Ich habe Anweisung, Sie herzubringen und dann mit dem Taxi weiterzufahren. Sie sollen gleich zum Zimmer Nummer vierundsechzig hinaufgehen. Dort werden Sie erwartet.«
Der Engländer nickte und stieg aus. Der Taxifahrer drehte sich fragend zu dem Franzosen um.»Fahren Sie weiter.«
Während das Taxi die Straße hinunterfuhr und in der Dunkelheit verschwand, wanderte der Blick des Engländers von der altertümlichen Frakturschrift auf dem Straßenschild zu den großen römischen Ziffern der Hausnummer über dem Eingang der Pension Kleist hinauf. Schließlich warf er seine halbgerauchte Zigarette fort und betrat die Pension.
Der diensttuende Portier stand mit dem Rücken zu ihm hinter dem Empfangstisch, aber die Tür knarrte. Der Engländer machte keine Anstalten, an die Portiersloge heranzutreten, sondern ging sogleich auf die Treppe zu. Der Portier war im Begriff, den Besucher zu fragen, wen er zu sprechen wünsche, als der Engländer in seine Richtung blickte, ihm wie einem beliebigen Hotelbediensteten flüchtig zunickte und» Guten Abend!«sagte.
«Guten Abend, mein Herr«, erwiderte der Portier automatisch, und im nächsten Augenblick war der blonde Mann, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, ohne dabei den Eindruck sonderlicher Eile zu erwecken, bereits die Treppe hinaufgegangen. Oben angelangt, blieb er einen Moment lang stehen und blickte den Korridor entlang. Am anderen Ende befand sich Zimmer Nummer achtundsechzig. Rückwärts zählend, rechnete er sich aus, wo Nummer vierundsechzig sein müßte.
Die Entfernung zwischen ihm und der Tür von Zimmer vierundsechzig betrug etwa sechseinhalb Meter; zur Rechten wurde die Korridorwand von zwei Türen unterbrochen, zur Linken von einem schmalen, zum Teil mit einem Vorhang aus rotem Velours verhängten Alkoven. Er unterzog den Alkoven einer eingehenden Betrachtung. Unter dem bis auf etwa zehn Zentimeter über dem Fußboden herabhängenden Vorhang war die Spitze eines einzelnen schwarzen Schuhs sichtbar.
Der Engländer drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Portiersloge zurück.»Geben Sie mir Zimmer vierundsechzig, bitte«, sagte er. Der Portier sah ihn einen Augenblick unschlüssig fragend an, gehorchte dann aber. Nach wenigen Sekunden trat er von dem kleinen Klappenschrank zurück, nahm den Hörer des Telephons auf dem Tresen ab und reichte ihn dem Engländer.
«Wenn der Gorilla im Alkoven nicht innerhalb von fünfzehn Sekunden verschwunden ist, fliege ich sofort zurück«, sagte der blonde Mann und legte auf. Dann stieg er wieder die Treppe hinauf.
Oben angekommen, wartete er, bis sich die Tür von Nummer vierundsechzig öffnete und Oberst Rodin erschien. Er starrte einen Moment zu dem Engländer hinüber und rief dann leise:»Viktor.«
Der hünenhafte Pole trat aus dem Alkoven heraus und blieb, vom einen zum anderen blickend, abwartend stehen. Rodin sagte:»Es ist in Ordnung. Er wird erwartet.«
Kowalsky ließ den Engländer, der jetzt auf den Oberst zuging, nicht aus den Augen.
Rodin führte den Besucher in das Zimmer. Das Mobiliar war umgestellt worden, und der Raum wirkte jetzt wie die Schreibstube einer Musterungskommission. Von Papieren übersät, diente der Schreibtisch als Tisch des Vorsitzenden. Dahinter stand der Stuhl mit der hohen Lehne, den jetzt zwei weitere, aus den angrenzenden Zimmern herbeigebrachte Stühle flankierten. Montclair und Casson, die auf ihnen Platz genommen hatten, blickten dem Engländer neugierig entgegen. Vor dem Tisch stand kein Stuhl.
Der Engländer sah sich in dem Raum um, entschied sich für einen der beiden Sessel und drehte ihn so, daß er dem Tisch gegenüber stand. Als Rodin Viktor mit neuen Instruktionen versehen und endlich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, saß der Engländer bereits bequem zurückgelehnt in dem Sessel und starrte seinerseits unverwandt Casson und Montclair an. Rodin nahm auf seinem Stuhl hinter dem Tisch Platz. Sekundenlang fixierte er den Mann aus London. Was er sah, mißfiel ihm keineswegs, und er war ein Experte in der Beurteilung von Männern. Der Besucher war etwa einsachtzig groß, Anfang Dreißig und von schlankem athletischem Wuchs. Er sah fit aus, seine regelmäßigen, aber nicht sonderlich auffallenden Gesichtszüge waren gebräunt, und seine Hände lagen ruhig auf den Armlehnen des Sessels. Auf Rodin machte er den Eindruck eines Mannes, der auch in kritischen Situationen die Kontrolle über sich selbst nicht verlor. Was ihn störte, waren einzig die Augen des Engländers. Sie erwiderten ungerührt den kritischen Blick, mit dem man ihn musterte,und wirkten offen und klar, sofern man von dem fleckigen Grau der Iris absah, das einen unwillkürlich an den nebligen Frost eines frühen Wintermorgens denken ließ. Rodin brauchte ein paar Sekunden, um zu entdecken, daß sie bar jeden Ausdrucks waren. Was auch immer sich in diesem Menschen abspielen mochte, das Grau seiner Augen blieb undurchdringlich wie eine Rauchwand und verriet nichts. Rodin beschlich ein Gefühl des Unbehagens. Wie jedem von Systemen und vorgeschriebenen Prozeduren geprägten Menschen mißfiel ihm alles Unberechenbare und daher Unkontrollierbare.
«Wir wissen, wer Sie sind«, begann er ohne Übergang.»Es ist daher an der Zeit, daß ich mich Ihnen vorstelle. Ich bin Oberst Marc Rodin — «
«Ich weiß«, sagte der Engländer.»Sie sind der Stabschef der OAS. Sie sind Major Rene Montclair, Schatzmeister, und Sie Monsieur Andre Casson, Chef der Untergrundbewegung in der Metropole. «Während er sprach, blickte er die drei Männer der Reihe nach an und griff nach einer Zigarette.
«Sie scheinen ja schon eine ganze Menge zu wissen«, warf Casson ein.
Der Engländer steckte sich die Zigarette an, lehnte sich zurück und stieß einen dichten Strahl von blauem Rauch aus.»Meine Herren, sprechen wir doch offen miteinander. Ich weiß, wer Sie sind, und Sie wissen, was ich bin. Unsere beiderseitige Tätigkeit — sowohl Ihre als auch meine — ist keine ganz alltägliche. Sie werden gejagt, während ich ohne Überwachung reisen kann, wohin ich will. Ich arbeite gegen Geld, Sie tun es aus Idealismus. Aber wenn es um konkrete Einzelheiten geht, sind wir allesamt Praktiker, Profis der gleichen Branche. Wir brauchen einander also nichts vorzumachen. Sie haben Erkundigungen über mich eingezogen. Es ist schlechthin nicht möglich, derartige Nachforschungen anzustellen, ohne daß dies demjenigen, dem sie gelten, zu Ohren kommt. Selbstverständlich habe ich wissen wollen, wer sich so angelegentlich für mich interessiert. Es hätte jemand sein können, der sich an mir rächen, oder auch jemand, der mich engagieren will. Es war wichtig für mich, das herauszubekommen. Als ich erfuhr, welche Organisation es war, die ein solches Interesse an mir bekundete,genügten zwei Tage, die ich in der französischen Abteilung des Zeitungsarchivs im Britischen Museum verbrachte, um mich über Sie und Ihre Organisation ausreichend ins Bild zu setzen. Der Besuch Ihres kleinen Laufjungen am heutigen Nachmittag war daher für mich keine allzu große Überraschung mehr. Bon. Ich weiß, wer Sie sind und wen Sie repräsentieren. Was ich gern wüßte, ist, was Sie wollen.«
Minutenlang herrschte Schweigen. Casson und Montclair sahen Rodin fragend an. Der Fallschirmjäger-Oberst und der Killer fixierten einander unverwandt. Rodin kannte sich mit gewalttätigen Männern zu gut aus, um nicht schon jetzt zu wissen, daß der, welcher ihm gegenübersaß, der gesuchte Mann war. Von diesem Augenblick an waren Montclair und Casson nur noch Randfiguren.
«Da Sie über uns schon so gründlich unterrichtet sind, will ich Sie nicht mit einer Darlegung der Motive und Ziele unserer Organisation, die Sie zutreffend als idealistisch bezeichnen, langweilen. Wir meinen, daß Frankreich derzeit von einem Diktator regiert wird, der das Land zugrunde richtet und seine Ehre besudelt. Wir meinen, daß sein Regime nur gestürzt und Frankreich den Franzosen wiedergeschenkt werden kann, wenn diesem Mann zuvor das Leben genommen wird. Von den sechs Versuchen, die unsere Anhänger unternommen haben, um ihn zu beseitigen, wurden drei bereits in der frühen Planungsphase aufgedeckt, einer am Vortag des Anschlags verraten und zwei ausgeführt, die jedoch mißlangen.
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