Sie hatten monatelang zusammengearbeitet, als Patient und Arzt - und schließlich als Freunde. Daß Marie Mo anbetete, half dabei - lieber Gott, sie brauchte einen Verbündeten! Die Last, die David für seine Frau gewesen war, war unvorstellbar, angefangen bei jenen ersten Tagen in der Schweiz, als ihr die Pein dämmerte, die den Mann verzehrte, der sie gefangengenommen hatte, bis zu dem Augenblick, wo sie sich entschloß - ganz gegen seinen Willen -, ihm zu helfen, dabei nie das glaubend, was er selbst glaubte. Immer wieder hatte sie ihm gesagt, daß er der Killer nicht war, für den er sich hielt, der Meuchelmörder, als den andere ihn bezeichneten. An diesen Glauben klammerte er sich, und ihre Liebe war der Keim seiner langsamen Gesundung. Ohne Marie war er ein ungeliebter
Mann, den man fallengelassen hatte, und ohne Mo Panov konnte er allenfalls dahinvegetieren. Aber seit sie beide hinter ihm standen, konnte er auch die Nebel durchdringen und wieder die Sonne finden.
Und dies war der Grund, weshalb er jetzt eine Stunde lang über diese kalte, verlassene Piste rannte, anstatt nach seinem Nachmittagsseminar nach Hause zu fahren. Seine Seminare dauerten oft wesentlich länger, als in den Stundenplänen stand, und Marie plante daher nie ein Essen, wußte, daß sie zum Essen ausgehen und daß ihre zwei unauffälligen Bewacher irgendwo in der Dunkelheit hinter ihnen sein würden - so wie jetzt einer dort hinten über den Sportplatz ging und der andere ohne Zweifel in der Halle wartete. Wahnsinn!
Was ihn zu dem Lauf getrieben hatte, war ein Bild, das plötzlich in seinem Bewußtsein aufgetaucht war, als er vor ein paar Stunden in seinem Büro saß und Arbeiten korrigierte. Es war ein Gesicht - ein Gesicht, das er kannte und an das er sich erinnerte, das er sehr liebte. Das Gesicht eines Jungen, das vor seinem inneren Bildschirm alterte und schließlich zu einem kompletten Porträt in Uniform wurde, etwas unscharf, aber ein Teil seiner selbst. Und während ihm Tränen über die Wangen rannen, wußte er, daß es der tote Bruder war, von dem man ihm erzählt hatte, der Kriegsgefangene, den er vor Jahren inmitten alleserschütternder Explosionen im Dschungel von Tarn Quan befreit hatte, und ein Verbrecher mit dem Namen Jason Borowski, den er exekutiert hatte. Er wurde mit diesen Bildern nicht fertig; er hatte es gerade noch geschafft, das Seminar hinter sich zu bringen, und hatte dann Kopfschmerzen vorgeschützt. Er mußte den Druck irgendwie loswerden, mußte seine Vernunft einsetzen, um die Erinnerungen entweder zu akzeptieren oder sie von sich zu stoßen. Und die Vernunft sagte ihm, daß er heraus mußte, rennen, gegen den Wind, je stärker, desto besser. Er würde Marie nicht jedesmal quälen, wenn wieder ein Damm brach; dazu liebte er sie zu sehr. Wenn er fähig war, selbst damit fertig zu werden, dann mußte er das auch tun. Das war der Vertrag, den er mit sich selbst geschlossen hatte.
Er öffnete die schwere Tür und fragte sich einen Augenblick lang, warum eigentlich jeder Zugang zu einer Turnhalle so schwere Türen haben mußte. Er trat ein und ging durch einen Bogen über den plattenbelegten Boden, durch einen Korridor mit weißen Wänden, bis er schließlich die Tür des Umkleideraums erreichte. Er war froh, daß der Raum leer war; er war jetzt nicht zu belanglosen Gesprächen aufgelegt, und falls er dazu gezwungen gewesen wäre, hätte er ohne Zweifel einen mürrischen, wenn nicht gar befremdlichen Eindruck gemacht. Und auf die neugierigen Blicke konnte er auch verzichten. Er stand zu dicht vor dem Abgrund; er mußte sich langsam davon zurückziehen, vorsichtig, zuerst allein und dann mit Marie. Herrgott, wann würde das alles einmal aufhören? Wieviel durfte er eigentlich von ihr fordern? Aber er brauchte nie zu fordern -sie gab, ohne daß man sie bitten mußte.
Jetzt kam Webb zu den Schränken. Sein eigener war ganz am Ende. Er ging zwischen der langen hölzernen Bank und den Blechschränken durch, als sein Blick plötzlich auf einen Gegenstand ganz vorne fiel. Er rannte darauf zu - jemand hatte ein Blatt an seinen Schrank geklebt. Er riß es herunter und klappte es auf: Ihre Frau hat angerufen. Sie sollen so schnell wie möglich zurückrufen. Es sei dringend. Ralph.
Der Platzwart hätte ja schließlich so viel Verstand haben können, hinauszugehen und nach ihm zu rufen, dachte David zornig, während er das Kombinationsschloß betätigte und den Schrank öffnete. Er wühlte in seiner schlaff herunterhängenden Hose nach Kleingeld, rannte zu einem Telefonautomaten an der Wand, schob eine Münze in den Schlitz und ärgerte sich, daß seine Hand beim Wählen zitterte. Dann wußte er, warum das so war. Marie gebrauchte nie das Wort >dringend<. Sie vermied es, solche Worte zu benutzen.
»Ja?«
»Was ist denn los?«
»Ich hab mir schon gedacht, daß du dort sein würdest«, sagte seine Frau. »Mos Allheilmittel, von dem er garantiert, daß es dich gesund macht, wenn es dir keinen Herzinfarkt einträgt.«
»Also, was ist?«
»David, komm nach Hause. Hier ist jemand, mit dem du sprechen mußt. Schnell, Liebling.«
Staatssekretär Edward McAllister beschränkte sich bei seiner Vorstellung auf das Unerläßliche, ließ aber durchblicken, daß er kein kleines Rädchen in seiner Behörde war. Andererseits strich er seine Bedeutung nicht heraus; er war ein selbstbewußter Beamter, davon überzeugt, daß seine Fähigkeiten ihm die Gewähr dafür bieten würden, auch Regierungswechsel zu überstehen.
»Wenn Sie möchten, Mr. Webb, können wir mit unserem Gespräch ja warten, bis Sie es sich etwas bequemer gemacht haben.«
David trug immer noch seine verschwitzten Shorts und das T-Shirt; mit seinem Straßenanzug aus dem Schrank war er sofort zum Wagen gerannt. »Ich glaube nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß unser Gespräch warten kann - wenn man bedenkt, woher Sie kommen, Mr. McAllister.«
»Setz dich, David.« Marie St. Jacques Webb kam mit zwei Handtüchern ins Wohnzimmer. »Sie bitte auch, Mr. McAllister.« Sie reichte Webb ein Handtuch, und die beiden Männer nahmen vor dem offenen Kamin, in dem kein Feuer brannte, Platz. Marie trat hinter ihren Mann und begann, ihm mit dem zweiten Handtuch Hals und Schultern abzutupfen. Das Licht der Tischlampe hob den rötlichen Glanz ihres kastanienfarbenen Haars hervor, während ihre Gesichtszüge im
Schatten lagen. Ihr Blick ruhte auf dem Mann aus dem Außenministerium. »Bitte, fahren Sie fort«, meinte sie dann. »Wir waren uns ja schon vorher einig, daß die Regierung mich als vertrauenswürdig ansehen kann.«
»Stand das in Frage?« fragte David und blickte zuerst zu ihr und dann zu seinem Besucher, ohne dabei die in ihm aufsteigende Feindseligkeit zu verbergen.
»In keiner Weise«, erwiderte McAllister mit einem schwachen und doch offenen Lächeln. »Niemand, der weiß, was Ihre Frau geleistet hat, würde es wagen, sie auszuschließen. Sie hat das vollbracht, was anderen mißlang.«
»Das sagt alles«, pflichtete Webb ihm bei. »Natürlich ohne irgend etwas zu sagen.«
»He, David, mach es ihm nicht so schwer.«
»Tut mir leid. Sie hat recht.« Webb versuchte zu lächeln, was ihm freilich nicht sonderlich gut gelang. »Ich lasse mich von Vorurteilen lenken, und das sollte ich nicht, wie?«
»Nun, ich meine, daß Sie dazu ein gutes Recht haben«, antwortete der Staatssekretär. »Wenn ich Sie wäre, würde ich das ganz bestimmt auch. Obwohl wir einen sehr ähnlichen Hintergrund haben - ich war einige Jahre im Fernen Osten eingesetzt -, wäre niemand auf die Idee gekommen, mich mit der Aufgabe zu betrauen, die Sie übernommen haben. Was Sie durchgemacht haben, wäre mir unmöglich gewesen.«
»Das war es mir auch. Das liegt doch auf der Hand.«
»Nicht von meinem Standpunkt aus. Schließlich haben Sie es, weiß Gott, geschafft.«
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