«Warum haben Sie ihn nicht besucht?«
Kerry zuckte mit den Schultern.»Irgendwann hab ich kapiert, dass er mich nicht sehen wollte.«
«Das war die Botschaft Ihrer Frau«, sagte Bourne.»Ihr Sohn ist noch ein Kind. Er weiß nicht, was er will. Wie denn auch? Er kennt Sie kaum.«
Kerry grunzte.»Sie haben leicht reden, Mr. Little. Sie haben ein behagliches Heim, eine glückliche Familie, zu der Sie jeden Abend heimkehren.«
«Gerade weil ich Kinder habe, weiß ich, wie kostbar sie sind«, sagte Bourne.»Wäre er mein Sohn, würde ich mit Zähnen und Klauen dafür kämpfen, ihn wieder kennen zu lernen und in mein Leben zu integrieren.«
Sie erreichten jetzt ein etwas dichter besiedeltes Gebiet, und Bourne sah ein Motel, eine Reihe von geschlossenen Läden. In der Ferne konnte er ein rotes Licht aufblitzen sehen, dann noch eines. Das war eine Straßensperre — allem Anschein nach eine große. Er zählte acht Streifenwagen, die zwei Reihen zu je vier Fahrzeugen bildeten und in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur
Fahrbahn parkten, damit sie ihren Insassen maximalen Schutz gewähren und notfalls rasch die Straße sperren konnten. Bourne wusste, dass er nicht mal in die Nähe dieser Straßensperre kommen durfte — zumindest nicht deutlich sichtbar auf dem Beifahrersitz eines Autos. Er würde irgendeine andere Möglichkeit finden müssen, dort durchzukommen.
Aus dem Dunkel tauchte plötzlich die Leuchtreklame eines die ganze Nacht geöffneten Tankstellshops auf.
«Setzen Sie mich bitte dort vorn ab?«
«Wollen Sie das wirklich, Mr. Little? Die Gegend ist noch ziemlich einsam.«
«Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich lasse mich einfach von meiner Frau abholen. Wir wohnen nicht weit von hier entfernt.«
«Dann sollte ich Sie ganz nach Hause bringen.«
«Bis hierher genügt. Wirklich.«
Kerry bremste, lenkte an den Straßenrand und hielt unmittelbar nach dem Tankstellenshop. Bourne stieg aus.
«Vielen Dank fürs Mitnehmen.«
«Gern geschehen. «Kerry lächelte.»Und, Mr. Little, vielen Dank für Ihren Rat. Ich werd darüber nachdenken, was Sie gesagt haben.«
Bourne beobachtete, wie Kerry davonfuhr, dann wandte er sich ab und betrat den Tankstellenshop. Von der ultrahellen Neonbeleuchtung schmerzten ihm die Augen. Der Kassierer, ein pickeliger junger Mann mit langem Haar und blutunterlaufenen Augen, rauchte eine Zigarette und las ein Taschenbuch. Er sah kurz auf, als Bourne hereinkam, nickte ohne sonderliches Interesse und widmete sich wieder seiner Lektüre. Irgendwo lief ein Radio, in dem eine Frau mit weltverdrossener, melancholischer Stimme» Yesterday’s Gone «sang. Sie hätte eigens für Bourne singen können.
Ein Blick in die Regale erinnerte ihn daran, dass er seit Mittag nichts mehr gegessen hatte. Er griff sich einen Korb und legte eine Plastikdose Erdnussbutter, eine Schachtel Kräcker eine Packung Salami, Orangensaft und Mineralwasser hinein.
Proteine und Vitamine waren das, was er jetzt brauchte. Außerdem kaufte er ein T-Shirt, ein langärmeliges gestreiftes Hemd, Zahnputz- und Rasierzeug und weitere Kleinigkeiten, von denen er aus langer Erfahrung wusste, dass er sie brauchen würde.
Bourne trat an die Kasse, und der pickelige junge Mann legte das eselsohrige Buch weg. Dhalgren von Samuel R. Delany. Bourne erinnerte sich daran, dass er dieses Buch kurz nach seiner Heimkehr aus Vietnam gelesen hatte: ein Buch, das ebenso halluzinatorisch war wie der Krieg. Fragmente seines früheren Lebens stiegen in ihm hoch: das Blut, der Tod, die Wut, das rücksichtslose Töten — alles, um den unerträglichen, niemals endenden Schmerz darüber zu betäuben, was im Fluss vor seinem Haus in Phnom Penh geschehen war.»Sie haben ein behagliches Heim, eine glückliche Familie, zu der Sie jeden Abend heimkehren«, hatte Kerry gesagt. Wenn der wüsste!
«Alles?«, fragte der pickelige junge Mann.
Bourne blinzelte, kehrte in die Gegenwart zurück.»Haben Sie ein Ladegerät für ein Handy?«
«Sorry, Kumpel, alle ausverkauft.«
Bourne bezahlte seine Einkäufe bar, nahm sie in einer braunen Papiertüte mit und verließ den Laden. Zehn Minuten später erreichte er das Motel. Auf dem Gelände parkten nur wenige Autos. Am anderen Ende des lang gestreckten Gebäudes stand ein Sattelschlepper, dem Anbauaggregat nach zu urteilen ein Kühltransporter. An der Rezeption kam ein spindeldürrer Mann mit dem grauen Gesicht eines Leichenbestatters hinter dem Schreibtisch im rückwärtigen Teil des Raums hervorgeschlurft, an dem er vor einem uralten tragbaren SchwarzWeiß-Fernseher gesessen hatte. Bourne trug sich unter falschem Namen ein und zahlte wieder bar. Jetzt besaß er noch genau siebenundsechzig Dollar.
«Gottverdammt merkwürdige Nacht«, krächzte der Spindeldürre.
«Wie das?«
Die Augen des anderen leuchteten auf.»Sagen Sie bloß, dass Sie nichts von den Morden gehört haben?«
Bourne schüttelte den Kopf.
«Keine zwanzig Meilen von hier. «Der Spindeldürre beugte sich über die Theke. Sein Atem roch unangenehm nach Kaffee und Magensäure.»Zwei Männer — Staatsbedienstete —, ansonsten sagt niemand was über sie, und Sie wissen ja, was das hierzulande bedeutet: Schlapphüte, alles streng geheim, wer zum Teufel weiß, was diese Burschen getrieben haben? Schalten Sie CNN ein, wenn Sie in Ihrem Zimmer sind, wir haben Kabelanschluss und alles. «Er gab Bourne den Schlüssel.»Hab Ihnen das Zimmer gegeben, das am weitesten von Guy entfernt ist- er ist der Trucker. Bestimmt haben Sie draußen seinen Sattelschlepper gesehen. Guy ist regelmäßig zwischen Florida und D.C. unterwegs; er fährt immer um fünf Uhr los, und wir wollen nicht, dass Sie gestört werden, stimmt’s?«
Das Zimmer war trostlos braun und schäbig. Selbst der Geruch eines gewerblich benützten Desinfektionsmittels konnte den Modergeruch des Verfalls nicht ganz überdecken. Bourne schaltete den Fernseher ein und suchte die Kanäle ab, bis er CNN gefunden hatte. Dann packte er Erdnussbutter und Kräcker aus und begann zu essen.
«Zweifellos eröffnet diese kühne, visionäre Initiative des Präsidenten die Chance, Brücken in eine friedlichere Zukunft zu bauen«, sagte die CNN-Moderatorin gerade. DER TERRORISMUS-GIPFEL verkündete ein feuerrotes grafisches Banner im oberen Drittel des Bildschirms in der subtilen Art eines Londoner Boulevardblatts.»Außer dem Präsidenten selbst werden an dem Gipfeltreffen der russische Präsident und arabische Spitzenpolitiker teilnehmen. Im Lauf der kommenden Woche werden Wolf Blitzer, der den Präsidenten begleitet, und Christiane Amanpour, die Eindrücke bei den russischen und arabischen Delegationen sammelt, mit ausführlichen Kommentaren zu Wort kommen. Schließlich könnte der Terrorismusgipfel die Story des Jahres werden. Nun zu einem topaktuellen Lagebericht aus der isländischen Hauptstadt Reykjavik.«
Auf dem Bildschirm erschien der Haupteingang des Hotels Oskjuhlid, in dem in fünf Tagen der Terrorismusgipfel stattfinden würde. Ein allzu ernster CNN-Reporter begann ein Interview mit Jamie Hull, dem für die Sicherheitsvorkehrungen der Amerikaner beim Gipfeltreffen zuständigen Mann. Bourne starrte Hulls Gesicht mit dem kantigen Kinn, seinem Bürstenhaarschnitt, dem ingwerfarbenen Schnurrbart und den kalten blauen Augen an und glaubte, Alarmglocken schrillen zu hören. Hull kam aus der Agency, er war ein hohes Tier im
Zentrum für Terrorismusbekämpfung. Conklin und er waren schon mehr als einmal aneinander geraten. Hull agierte politisch sehr geschickt, war jedoch im Umgang mit wichtigen Leuten ein Arschkriecher. Aber er handelte überall und immer streng nach Vorschrift, selbst wenn die Umstände flexibleres Verhalten erfordert hätten. Conklin musste einem Schlaganfall nahe gewesen sein, als er gehört hatte, dass Hull zum US-Sicherheitschef beim Gipfeltreffen ernannt worden war.
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