Jetzt beugte Thelma sich erneut über Laura und betrachtete sie prüfend. »He, du siehst blaß aus«, stellte sie fest. »Und diese Ringe unter den Augen ...«
»Thelma, Liebste, ich zerstöre deine Illusionen nur ungern, aber ein Baby wird nicht wirklich vom Storch gebracht. Die Mutter muß es selbst gebären - und das ist Schwerarbeit.«
Thelma musterte sie erneut und starrte danach ebenso forschend Danny an, der auf die andere Bettseite getreten war und Lauras Hand hielt. »Was ist hier nicht in Ordnung?«
Laura seufzte, verzog schmerzlich das Gesicht und veränderte ihre Stellung. »Siehst du?« sagte sie zu Danny. »Ich hab’ dir gesagt, daß sie ein Bluthund ist.«
»Es ist keine leichte Schwangerschaft gewesen, stimmt’ s?« fragte Thelma.
»Die Schwangerschaft ist nicht weiter schwierig gewesen«, antwortete Laura. »Dafür die Geburt um so mehr.«
»Du bist nicht ... fast gestorben oder so was, Shane?«
»Nein, nein, nein«, wehrte Laura ab und spürte, wie Danny ihre Hand fester umklammerte. »Nichts so Dramatisches. Wir haben von Anfang an gewußt, daß es gewisse Schwierigkeiten geben würde, aber wir haben den besten Arzt gefunden, der alles penibel überwacht hat. Aber ich ... kann keine Kinder mehr bekommen, weißt du. Christopher ist unser letztes.«
Thelma schaute zu Danny hinüber, bevor sie sich an Laura wandte und leise sagte: »Oh, das tut mir leid.«
»Halb so schlimm«, wehrte Laura mit gezwungenem Lächeln ab. »Wir haben den kleinen Chris, der wunderhübsch ist.«
Alle drei schwiegen verlegen, bis Danny feststellte: »Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen und bin fast verhungert. Wenn ihr nichts dagegen habt, verschwinde ich für eine halbe Stunde nach unten in den Coffee Shop.«
Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte Thelma wissend. »Er ist nicht wirklich hungrig, stimmt’s? Er hat nur gemerkt, daß wir Mädels ungestört miteinander schwatzen wollen.«
Laura lächelte. »Er ist ein lieber Kerl.«
Thelma klappte das Bettgitter auf der linken Seite herab. »Ich schüttle nicht deine Innereien durcheinander, wenn ich mich hier neben dich setze, oder?« fragte sie. »Du fängst nicht plötzlich an, mich mit Blut zu besudeln, Shane?«
»Ich will mich bemühen, es nicht zu tun.«
Thelma setzte sich auf die Kante des hohen Krankenhausbetts und ergriff mit beiden Händen Lauras rechte Hand. »Hör zu, ich habe >Shadrach< gelesen und finde den Roman verdammt gut. Er verkörpert genau das, was alle Schriftsteller wollen und so selten erreichen.«
»Danke, Thelma. Du bist süß.«
»Nein, ich bin abgebrüht, zynisch und eisenhart. Hör zu, das mit dem Buch ist mein Ernst. Es ist brillant. Ich habe die alte Kuh Bowmaine darin erkannt - und natürlich Tammy. Und Boone, den Psychologen vom Jugendamt. Alle unter anderem Namen, aber ich habe sie wiedererkannt. Du hast sie treffend charakterisiert, Shane. Mein Gott, manchmal hat alles so lebendig vor mir gestanden, daß mir ein kalter Schauder über den Rücken gelaufen ist und ich das Buch weglegen und einen Spaziergang in der Sonne machen mußte. Und manchmal habe ich schallend lachen müssen.«
Laura schmerzten alle Muskeln, alle Gelenke. Sie hatte nicht einmal die Kraft, sich aufzurichten und ihre Freundin zu umarmen. Deshalb sagte sie nur: »Ich liebe dich, Thelma.«
»Den Weißen Aal hast du natürlich weggelassen.«
»Den habe ich mir für ein anderes Buch aufgehoben.«
»Und mich, verdammt noch mal! Ich komme nicht in deinem Buch vor, obwohl ich die originellste Persönlichkeit bin, die du je kennengelernt hast!«
»Dich habe ich mir für ein eigenes Buch aufgehoben«, sagte Laura.
»Im Ernst?«
»Ja. Nicht fürs nächste, aber fürs übernächste.«
»Hör zu, Shane, mach mich bildhübsch, sonst verklage ich dich auf Schadenersatz in Millionenhöhe. Kapiert?«
»Ich habe verstanden.«
Thelma biß sich auf die Unterlippe. »Willst du dann auch .«
»Ja, Ruthie wird auch darin vorkommen.«
Sie blieben eine Zeitlang schweigend sitzen und hielten sich an den Händen.
Laura standen Tränen in den Augen, aber sie sah, daß ihre Freundin ebenfalls gegen die Tränen ankämpfte. »Nicht, Thelma! Sonst zerfließt dein schönes Punker-Augen-Make-up.«
Thelma hob einen Fuß bis in Höhe der Bettkante. »Sind das nicht ausgefallene Stiefel? Schwarzes Leder, spitz zulaufend, hohe Absätze und Zierketten. Damit sehe ich wie ‘ne gottverdammte Domina aus, stimmt’s?«
»Als du vorhin reingekommen bist, habe ich mich als erstes gefragt, wie viele Männer du in letzter Zeit ausgepeitscht haben magst.«
Thelma seufzte und zog geräuschvoll hoch. »Hör mir jetzt mal gut zu, Shane. Deine Begabung ist vielleicht wertvoller, als du glaubst. Du bist imstande, das Leben anderer aufs Papier zu bannen, und selbst wenn diese Menschen eines Tages sterben, ist das Papier noch da - ist ihr Leben noch da. Du kannst Gefühle zu Papier bringen, und jeder, der deine Bücher liest, kann diese Gefühle nachempfinden. Du rührst unsere Herzen an; du erinnerst uns daran, was es bedeutet, in einer aufs Verdrängen und Vergessen fixierten Welt menschlich zu sein. Deine Begabung ist ein Lebenszweck, wie ihn nur wenige besitzen. Deshalb ... nun, ich weiß, wie sehr du dir eine Familie gewünscht hast ... drei oder vier Kinder, hast du gesagt ... deshalb weiß ich, wie traurig du jetzt sein mußt. Aber du hast Danny und Christopher und deine erstaunliche Begabung - das ist schon sehr viel!«
Lauras Stimme schwankte. »Manchmal ... habe ich solche Angst.« »Angst wovor, Baby?«
»Ich wollte eine große Familie, weil . weil es dann unwahrscheinlicher ist, daß sie mir alle weggenommen werden.«
»Dir wird niemand weggenommen.«
»Wenn ich nur Danny und den kleinen Chris habe ... nur diese beiden ... da könnte irgendwas passieren.«
»Es passiert aber nichts.«
»Dann wäre ich allein.«
»Es passiert aber nichts«, wiederholte Thelma.
»Irgendwas passiert immer. So ist das Leben.«
Thelma rutschte von der Bettkante weiter zur Bettmitte, streckte sich neben ihrer Freundin aus und legte den Kopf an Lauras Schulter. »Als du gesagt hast, es sei eine schwere Geburt gewesen ... als ich gemerkt habe, wie blaß du bist ... hab’ ich Angst bekommen. Klar, ich habe Freunde in Los Angeles, aber die sind alle vom Bau. Du bist der einzige reale Mensch, der mir nahesteht, selbst wenn wir uns nicht allzu häufig sehen, und die Vorstellung, daß du beinahe .«
»Ich bin aber nicht.«
»Hätte aber sein können.« Thelma lachte humorlos. »Der Teufel soll’s holen, Shane: Wir Waisen können eben nie aus unserer Haut heraus, stimmt’s?«
Laura drückte sie an sich und streichelte ihr Haar.
Kurz nachdem Chris seinen ersten Geburtstag gefeiert hatte, lieferte Laura »Die goldene Klinge« ab. Der Roman erschien zehn Monate später, und am zweiten Geburtstag des Jungen stand das Buch auf Platz 1 der Bestsellerliste der »New York Times« - für Laura eine Premiere.
Danny verwaltete Lauras Einkommen mit soviel Geschick, Vorsicht und Scharfsinn, daß sie trotz fast erdrückend hoher Einkommensteuern damit rechnen konnten, binnen weniger Jahre nicht nur reich - reich waren sie nach den meisten Begriffen längst -, sondern schwerreich zu sein. Laura wußte nicht recht, was sie davon halten sollte. Sie hatte nie erwartet, eines Tages reich zu werden. Beim Gedanken an ihre beneidenswerten Vermögensverhältnisse hätte sie vielleicht freudig erregt oder - angesichts des Elends auf der Welt - entsetzt sein müssen, aber das viele Geld berührte sie kaum. Die materielle Sicherheit war willkommen, sie schuf Zuversicht. Aber Danny und Laura dachten nicht daran, aus ihrem hübschen Haus auszuziehen, obwohl sie sich einen Landsitz hätten leisten können. Das Geld war da, basta, und Laura dachte nicht weiter darüber nach. Das Leben bestand nicht aus Geldverdienen; ihr Leben bestand aus Danny und Chris und natürlich auch ihren Büchern.
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