Laura blickte die Steigung hinauf und sah den Kleinlaster, der noch einige hundert Meter von ihnen entfernt war, wie in Zeitlupe ins Schleudern geraten, bis er fast querstand. Hätte ihr Beschützer sie nicht aufgehalten, wären sie dem schleudernden Lastwagen genau dort begegnet und bereits von ihm gerammt worden.
Danny, der neben ihr stand und Chris auf dem Rücken hatte, erfaßte sofort die Gefahr, in der sie noch immer schwebten. Der außer Kontrolle geratene Lastwagen konnte die ganze Gefällestrecke hinunter und in ihre am Straßenrand abgestellten Fahrzeuge rasen. Danny packte Chris fester, arbeitete sich den Schneewall hoch und rief Laura zu, sie solle sich bewegen.
Sie begann hastig zu klettern, suchte Griffe und trat mit den Stiefeln Trittlöcher. Der Schneewall war nicht nur verharscht, sondern auch mit Eisbrocken durchsetzt, und an einigen Stellen lösten sich große Brocken, und Laura wäre beinahe rückwärts aufs Bankett gestürzt. Als sie dann mit ihrem Beschützer, Danny und Chris fünf Meter über der Straße auf einem schmalen, aber fast schneefreien Felsband in der Nähe der Bäume stand, hatte sie das Gefühl, ewig geklettert zu sein. Tatsächlich mußte die Angst ihr Zeitgefühl beeinträchtigt haben, denn als sie wieder auf die Straße blickte, sah sie, daß der Lastwagen noch immer auf sie zuschleuderte. Er war noch zehn Wagenlängen von ihnen entfernt, hatte sich einmal um seine Achse gedreht und kam wieder mit der Längsseite auf sie zu.
Im Schneetreiben schien das Fahrzeug sich wie in Zeitlupe zu bewegen: das Schicksal in Form einiger Tonnen Stahl. Auf seiner Ladefläche stand ein Schneemobil, das weder mit Ketten noch Gurten gesichert war; offenbar hatte der Fahrer leichtsinnigerweise darauf vertraut, daß es durch sein Gewicht stehenbleiben würde. Jetzt stieß das Schneemobil heftig gegen die Bordwände und die Rückwand des Fahrerhauses und brachte den schleudernden Kleinlaster so heftig ins Schwanken, daß ein Überschlagen wahrscheinlicher erschien als das erneute Kreiseln, das er jetzt vollführte.
Laura sah den Fahrer vergeblich mit dem Lenkrad kämpfen, sah die Frau neben ihm die Hände vors Gesicht schlagen und dachte: Mein Gott, diese armen Menschen!
Als habe ihr Beschützer ihre Gedanken erraten, rief er laut, um das Heulen des Windes zu übertönen: »Beide betrunken, keine Schneeketten!«
Wenn du soviel über sie weißt, dachte Laura, mußt du auch wissen, wer sie sind - warum hast du sie dann nicht angehalten, weshalb hast du nicht auch sie gerettet?
Mit schrecklichem Krachen bohrte der Kühler des Kleinlasters sich in die Flanke des Jeeps, und die Beifahrerin, die ihren Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, wurde zur Hälfte durch die Windschutzscheibe geschleudert und blieb, halb aus dem Wagen hängend, liegen .
»Chris!« kreischte Laura. Aber dann sah sie, daß Danny den Jungen bereits abgesetzt hatte und ihn an sich gedrückt hielt, um zu verhindern, daß der Junge Augenzeuge des Unfalls wurde.
... Auch dieser Aufprall brachte den Lastwagen nicht zum Stehen; seine Bewegungsenergie war zu hoch, die Reifen ohne Ketten fanden auf der Schneedecke keinen Halt, doch änderte sich nun die Bewegungsrichtung des Lastwagens, dessen Heck jetzt abrupt nach rechts ausritt, so daß er rückwärts weiterschoß. Das Schneemobil durchbrach die Ladeklappe am Heck, flog in weitem Bogen von der Ladefläche, krachte in die Motorhaube des Blazers und zertrümmerte die Windschutzscheibe. Im nächsten Augenblick knallte das Heck des Kleinlasters mit solcher Gewalt gegen die Front des Blazers, daß das schwere Fahrzeug trotz angezogener Handbremse drei Meter weit zurückgeschoben wurde .
Obwohl Laura den Unfall aus sicherer Höhe über der Straße beobachtete, umklammerte sie Dannys Arm, weil sie sich entsetzt vorstellte, wie sie alle verletzt oder gar getötet worden wären, wenn sie in ihrem Wagen geblieben oder hinter ihm Schutz gesucht hätten.
... Jetzt prallte der Kleinlaster von dem Blazer ab; die blutende Frau fiel ins Fahrerhaus zurück; der demolierte Wagen, der an Geschwindigkeit verloren hatte, aber noch immer außer Kontrolle war, beschrieb in einem unheimlich graziösen Ballett des Todes einen Vollkreis, schleuderte über beide Fahrspuren, fand auf der Schneedecke keinen Halt, geriet über den ungesicherten Fahrbahnrand und verschwand sich überschlagend in der Tiefe.
Obwohl der Schrecken vorüber war, schlug Laura die Hände vors Gesicht, als könne sie dadurch das vor ihrem inneren Auge stehende Bild aussperren, wie der Kleinlaster mit seinen beiden Insassen Hunderte von Metern tief in die steile, fast unbewaldete Schlucht stürzte. Der Fahrer und seine Beifahrerin würden tot sein, bevor sie den Boden der Schlucht erreichten. Über das Tosen des Windes hinweg hörte sie, wie der Lastwagen gegen einen Felsen krachte, weiterstürzte und erneut aufschlug. Sekunden später gingen die Absturzgeräusche im wilden Heulen des Sturms unter.
Benommen rutschten und kletterten sie den Schneewall hinunter und erreichten die Straße zwischen dem Jeep und dem Blazer, wo der Schnee mit Metallstücken und Glassplittern übersät war. Unter dem Blazer, aus dessen zertrümmertem Kühler Wasser und Öl in den Schnee ausliefen, stieg Dampf auf, und der demolierte Wagen knirschte unter dem Gewicht des Schneemobils, das sich halb in die Fahrgastzelle gebohrt hatte.
Chris begann zu weinen. Laura streckte die Arme nach ihm aus. Der Junge drängte sich gegen sie, und sie hielt ihn an sich gedrückt, während er hemmungslos schluchzte.
Danny wandte sich verwirrt an ihren Retter. »Wer ... wer sind Sie, um Himmels willen?«
Laura starrte ihren Beschützer an und wollte nicht begreifen, daß er tatsächlich vor ihr stand. Sie hatte ihn seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen - seit ihrem zwölften Lebensjahr nicht mehr, als sie ihn entdeckt hatte, wie er das Begräbnis ihres Vaters vom Rande des Lorbeerwäldchens aus beobachtete. Ganz aus der Nähe hatte sie ihn zuletzt vor fast einem Vierteljahrhundert gesehen, als er den Junkie im Laden ihres Vaters erschossen hatte. Als er sie wider Erwarten nicht vor dem Aal gerettet hatte, als er die Bewältigung dieser Krise ihr überlassen hatte, war ihr Glaube an ihn wankend geworden, und ihre Zweifel hatten sich verstärkt, als er auch nichts unternommen hatte, um Nina Dockweiler - oder Ruthie - zu retten. Nach so langer Zeit war er zu einer eher mystischen als realen Traumgestalt geworden, und Laura hatte in den letzten Jahren kaum noch an ihn gedacht: Sie hatte den Glauben an ihn verloren, wie Chris jetzt den Glauben an den Weihnachtsmann verlor. Sie hatte noch immer seinen Brief ohne Unterschrift, den er nach der Beerdigung auf ihrem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Aber sie hatte sich längst eingeredet, er stamme nicht von einem geheimnisvollen Beschützer, sondern sei vielleicht von Cora oder Tom Lance, den Freunden ihres Vaters, geschrieben worden. Jetzt hatte er sie erneut auf wunderbare Weise gerettet, und Danny wollte wissen, wer er um Himmels willen sei - und genau das interessierte auch Laura brennend.
Das merkwürdigste war, daß er genauso aussah wie damals, als er den Junkie erschossen hatte. Ganz genauso. Selbst nach so langer Zeit hatte sie ihn sofort wiedererkannt, weil er nicht gealtert war. Er schien noch immer Mitte bis Ende Dreißig zu sein. Obwohl das unmöglich war, hatten die Jahre keine Spur hinterlassen: keine Andeutung von Grau in seinem blonden Haar, keine Falten in seinem Gesicht. Obwohl er an jenem blutigen Tag in Santa Ana so alt wie ihr Vater gewesen war, gehörte er jetzt eher zu Lauras Generation.
Bevor der Mann Dannys Frage beantworten oder von ihr ablenken konnte, kam ein Auto über die Hügelkuppe und fuhr bergab auf sie zu. Es war ein neuer Pontiac mit Schneeketten, die auf dem Asphalt hell klirrten. Der Fahrer sah offenbar den beschädigten Jeep, den demolierten Blazer und die Schleuderspuren des Kleinlasters, die Schnee und Wind noch nicht verwischt hatten; er bremste - bei herabgesetzter Geschwindigkeit verwandelte das Klirren der Schneeketten sich in ein Rasseln -und fuhr herüber auf ihre Straßenseite. Anstatt jedoch auf dem Bankett zu parken, um den Verkehr nicht zu behindern, rollte der Pontiac auf der falschen Straßenseite weiter und hielt kaum fünf Meter von ihnen entfernt neben dem Heck des Jeeps an. Als der Fahrer - ein großer Mann in dunkler Kleidung - seine Tür öffnete und ausstieg, hielt er einen Gegenstand in der Hand, den Laura zu spät als Maschinenpistole erkannte.
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