Die Arbeit im Presbyterian war nie leicht gewesen. Manchmal war hier mehr Improvisationstalent gefragt als in einem Lazarett in den afghanischen Bergen. Das Krankenhaus litt unter Personalmangel. Es gab viel zu wenig Ärzte und Schwestern für viel zu viele Hilfesuchende. Dennoch war es Thane und ihren Kollegen gelungen, Zehntausenden Patienten eine anständige medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Sie halfen anderen Sozialdiensten aus, erfüllten die Bitten von Todkranken, hatten ein Ohr für die Sorgen und Nöte in den eigenen Reihen und betranken sich gemeinsam, um wenigstens für kurze Zeit alles zu vergessen. In den letzten drei Jahren war das Personal des Presbyterian Thanes Ersatz für eine militärische Einheit gewesen – eine große, chaotische, gelegentlich glückliche Truppe.
Jetzt lagen viele von ihnen im Sterben, und bald würde auch das Presbyterian der Vergangenheit angehören. Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, die Krankheit aufzuhalten oder die Ausbreitung zu verlangsamen, würden sie niemals sicherstellen können, dass Fußböden, Wände, Waschbecken, Bettgestelle und Lichtschalter nicht mehr mit Prionen verseucht waren. Das Gebäude würde abgerissen und Stück für Stück als Sondermüll entsorgt werden.
***
Drinnen liefen Mitarbeiter des CDC geschäftig hin und her, kümmerten sich um die Patienten, versuchten, Infizierte zu beruhigen, riefen einander laut und barsch knappe Befehle zu. Durch den Helm ihres luftdichten Schutzanzugs konnte Thane ihre Gesichter nur undeutlich ausmachen, doch das hatte den Vorteil, dass die anderen ihr Gesicht auch nicht richtig sehen konnten. Solange sie nicht erkannt wurde, konnte sie sich frei auf den Stationen bewegen. Es war furchtbar heiß in dem Anzug, und sie konnte sich darin nur schwerfällig bewegen, aber inzwischen hatte sie sich auch daran gewöhnt. Sie stapfte an teilnahmslosen Patienten vorbei, die dumpf an die Wand starrten oder ruhelos in ihrem Zimmer auf und ab wanderten.
Im vierten Stock legte sie ihren ersten Zwischenstopp ein. Meredith Fentress war eine korpulente Frau, die erst eine Woche zuvor an der Anmeldung angefangen hatte. Thane hatte viele Nächte mit ihr über die Dodgers und deren nicht enden wollende Pechsträhne geplaudert.
Jetzt warf sich Fentress wimmernd in den durchgeschwitzten Laken hin und her. Der Schweiß lief ihr in Strömen über das Gesicht und über den Hals.
»Bald geht es Ihnen besser«, flüsterte Thane, als sie die gelbliche Lösung mit den Antikörpern in die Infusionsflasche injizierte. Sie hatte mit Stanton abgesprochen, dass sie ein paar Sekunden warten würde, nur um ganz sicherzugehen, dass der Patient keine negative Reaktion zeigte, die ein sofortiges Eingreifen erforderlich machen würde.
Nichts. Als Thane ganz sicher war, ging sie weiter, von Zimmer zu Zimmer. Abgesehen von einigen wenigen Malen, wo sie draußen auf dem Flur warten musste, bis ein Arzt vom Seuchenzentrum das Krankenzimmer verlassen hatte, klappte alles reibungslos. Fast, als ob sie unsichtbar wäre.
Amy Singer war eine zierliche Medizinstudentin im dritten Ausbildungsjahr mit blond gefärbten Haaren. Thane hatte sich auf der Intensivstation turnusmäßig mit ihr abgewechselt. Einmal, als ein alter Mann auf der Station sie miteinander verwechselte, hatten die beiden einen Lachkrampf bekommen und sich nicht mehr beruhigen können.
Plötzlich betrat eine Krankenschwester im Schutzanzug das Zimmer. Sie musterte Thane misstrauisch. »Kann ich Ihnen helfen?«
Thane zog den CDC-Ausweis hervor, den Stanton für sie hatte ausstellen lassen. »Ich will nur ein paar zusätzliche Proben nehmen. Um zu überprüfen, wie schnell die Proteinmasse wächst.«
Die Schwester gab sich mit dieser Erklärung zufrieden und setzte ihre Runde fort. Thane atmete tief durch. Bis jetzt war alles gut gegangen. Wenn sie an Gott glauben würde, hätte sie gebetet, dass die Antikörper wirkten.
Zehn Patienten später stand sie am Bett von Bryan Appleton. Er lag ganz still da, mit geschlossenen Augen, aber das täuschte. Thane wusste, dass er sich in einem gefährlichen Dämmerzustand befand. Sie sah die drei tiefen roten Kratzer seitlich an seinem Gesicht und nahm sich vor, den Mann zu seiner eigenen Sicherheit am Bett zu fixieren. Appleton gehörte zum Küchenpersonal, er hatte Thane praktisch zwangsernährt, als sie nachts Bereitschaft gehabt hatte. Er hatte instinktiv begriffen, dass Ärzte nur dann etwas aßen, wenn die Mahlzeiten – Haferkekse, Melone, Saft, Kaffee – wie von Zauberhand auf dem Tisch im Bereitschaftszimmer standen.
Thane beobachtete, wie die injizierte Lösung durch den Infusionsschlauch in seinen Arm rann. Dann versuchte sie, den Mann herumzudrehen, damit sie seine Handgelenke am Bettgestell fixieren konnte.
Appleton öffnete die Augen.
Er packte sie am Ärmel ihres Schutzanzugs. »Was machen Sie da?«, herrschte er sie an. »Was haben Sie mit mir vor?«
Thane befreite sich so behutsam wie möglich aus seinem Griff. »Ich bin’s, Bryan. Michaela. Ich gebe Ihnen ein Medikament.«
Appleton fuhr hoch. »Ich will kein Scheißmedikament!«
Ein irrer Ausdruck trat in seine Augen. Das Piepsen des Monitors neben seinem Bett wurde schneller. Sein Herz raste mit einhundertachtzig Schlägen pro Minute.
»Bitte legen Sie sich wieder hin, Bryan.« Er war groß und kräftig, aber Thane war schon mit ganz anderen fertig geworden. Die Füße fest auf den Boden gestemmt, beugte sie sich über ihn. Woher kam dieses Herzjagen? Eine allergische Reaktion auf die Antikörper? Oder eine Begleiterscheinung von VFI, verursacht durch Stress und Wut? Egal, sie musste ihn unbedingt beruhigen. »Bitte, Bryan. Legen Sie sich einen Moment hin und versuchen Sie, sich zu entspannen.«
Aber Appleton packte sie und schleuderte sie über den Nachttisch. »Lass deine scheißverdammten Finger von mir!« , brüllte er.
Thane knallte auf den Fußboden. Sie spürte, dass sie eine schlimme Beule am Kopf bekommen würde. Aber sie musste etwas tun, und zwar schnell, sie hatte nicht viel Zeit. Mühsam rappelte sie sich auf. Sie warf einen Blick auf Appletons Blutdruck: 50/30.
Er hatte einen anaphylaktischen Schock.
Sie musste ihm unbedingt Epinephrin spritzen. Aber er riss sich bereits den Tropf heraus, zerrte blindwütig an Schläuchen und Kabeln. Sie würde nicht nah genug an ihn herankommen, um ihm eine Spritze zu geben. »Bryan, bitte«, flehte sie. »Sie haben eine allergische Reaktion. Ich muss Ihnen etwas dagegen geben!«
»Du willst mich vergiften!« Er schwang die Beine aus dem Bett und stürzte sich auf Thane. »Ich bring dich um, du gottverdammtes Miststück!«
Sie konnte ihm gerade noch ausweichen. Sie lief um das Bett herum, so schnell der Schutzanzug es erlaubte, und rannte aus dem Zimmer. Bryans Schreie hallten durch den Flur und schreckten andere Patienten auf. Hinter der Glasscheibe in den Zimmertüren tauchten Gesichter auf, die Leute hämmerten an die Türen und verlangten lautstark, man möge sie sofort herauslassen.
Thane flüchtete zur Treppe. Sie musste von hier verschwinden, und zwar schleunigst. Sie bekam fast keine Luft in dem schweren Schutzanzug, als sie in den dritten Stock hinunterhetzte. Auf dem Treppenabsatz hätte sie beinahe einen Mann in einem Krankenhausnachthemd umgerannt, der dort stand. Es war Mariano Kuperschmidt, der Mann vom Sicherheitsdienst, der vor Volcys Zimmer postiert gewesen war. Eine Welle von Traurigkeit erfasste Thane. Der Mann hatte aus Furcht vor Ansteckung immer einen Mundschutz getragen. Aber seine Augen hatte er nicht geschützt.
»Lass meine Frau in Ruhe!«, herrschte er sie an. Er war krank, hatte offenbar Halluzinationen.
Thane wich zurück. »Alles in Ordnung, Mariano«, sagte sie beschwichtigend. »Ich bin’s. Michaela Thane.«
Aber der Mann bleckte die Zähne, packte sie in Brusthöhe an ihrem Schutzanzug und schleuderte sie die Treppe hinunter. Sie hatte sich bereits das Genick gebrochen, als sie auf dem untersten Treppenabsatz aufschlug.
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