Keiner glaubte ihm. Keiner nahm ihm ab, dass er kostbare Schätze gefunden und sie einfach dort gelassen hatte. Nachdem er tagelang verspottet worden war, erklärte Chiam, er werde eine Mannschaft zusammenstellen und in den Dschungel zurückkehren, um zu beweisen, dass er kein Lügner war. Doch dazu kam es nicht mehr. Er wurde zusammen mit einem Dutzend weiterer Männer aus ganz Petén festgenommen und wegen umstürzlerischer Aktivitäten gehängt.
»Chiam hat viele Einzelheiten erwähnt«, fuhr Ha’ana fort. »Er hat von einander gegenüberliegenden Zwillingstempeln geredet und von einem großen Innenhof mit riesigen Säulen ringsherum, wo sich unsere Vorfahren getroffen hätten, um über Politik zu diskutieren. Kaum zu fassen, nicht wahr? Er dachte, er würde uns mit seinen Geschichten klarmachen, dass wir genauso klug sind wie die ladinos . Aber er hat es nicht schlau genug angefangen; alle wussten, dass er gelogen hat. Er war ein guter, warmherziger Mann, aber seine Geschichte war von Anfang bis Ende erfunden.«
»Ein Innenhof, sagst du? Mit riesigen Säulen?«
»Ja, so was Ähnliches«, erwiderte Ha’ana achselzuckend.
»Wie hoch waren die Säulen? Hat er das auch gesagt? Neun Meter? Zehn?«
»Er hätte auch hundert Meter sagen können. Kein Mensch hat hingehört.«
Paktul hatte einen Innenhof beschrieben, der von einem Säulengang umgeben war, und jede Säule war sechs oder sieben Mann hoch. Während es Zwillingstempel in Dutzenden antiker Maya-Städte gab, kamen so hohe Säulen nur an einem oder zwei Orten in Mexiko vor. In Guatemala waren sie höchstens halb so hoch.
»Er hat sie vielleicht doch gefunden«, murmelte Chel vor sich hin.
»Ach, Chel!«
Chel setzte zu einer Erklärung an, aber ihre Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die versunkene Stadt ist ein Mythos. Wie alle versunkenen Städte.«
»Wir haben schon versunkene Städte entdeckt, Mom. Es gibt sie tatsächlich.«
Ha’ana holte tief Luft. »Ich weiß, dass du das gern glauben willst, Chel.«
»Es geht nicht um mich«, erwiderte sie mit Nachdruck.
»Alle in Kiaqix wollen das glauben«, fuhr ihre Mutter ungerührt fort. »Sie belügen sich selbst, weil sie damit etwas haben, an dem sie sich festklammern können, etwas, was ihnen Hoffnung gibt. Aber deshalb bleibt die Geschichte von der versunkenen Stadt doch das, was sie ist – eine alberne Geschichte, erfunden von Menschen, die es nicht besser wissen. Ich habe dich nicht hierher gebracht und dich großgezogen, damit du genauso wirst wie sie!«
Ha’anas Bereitschaft, über Chiam zu sprechen, hatte Chel erstaunt, aber jetzt begriff sie, dass sich nichts geändert hatte. Ha’ana war immer noch dieselbe Frau, die ihre Heimat verlassen und alles aufgegeben hatte, woran ihr Mann geglaubt hatte. Dieselbe Frau, die seit dreiunddreißig Jahren versuchte zu vergessen, was geschehen war, und die die Bedeutung ihrer Kultur und ihrer Tradition leugnete.
»Vielleicht glaubst du nicht an die versunkene Stadt, weil du Angst davor hast, was es für dich bedeuten würde, Mom.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ach, vergiss es.« Es hatte ja doch keinen Sinn. »Ich muss los. Ich habe noch eine Menge zu erledigen.«
Wie spät war es eigentlich?
Chel blickte auf ihr Handy und sah, dass eine E-Mail von Stanton gekommen war:
Ich weiß, dass Sie sich melden, wenn es etwas Neues gibt; wollte mich nur vergewissern, dass es Ihnen gut geht. G.
Sie las die Nachricht ein zweites Mal. Irgendwie gefiel ihr der Gedanke, dass er sich offenbar um sie sorgte.
»Hast du allen Ernstes vor, nach diesen Ruinen zu suchen?«, fragte Ha’ana. »Ausgerechnet jetzt, wo diese Seuche ausgebrochen ist?«
»Genau deswegen müssen wir sie ja suchen, Mom.«
»Und wie?« Ihre Mutter runzelte die Stirn.
»Zum Beispiel per Satellit«, sagte Chel nachdenklich. »Oder vom Boden aus, wenn es nicht anders geht.«
»Sag mir bitte, dass du nicht vorhast, selber in den Dschungel zu gehen, Chel.«
»Wenn die Ärzte mich dort brauchen, fahre ich hin.«
»Das ist zu gefährlich! Du weißt, dass das zu gefährlich ist!«, sagte ihre Mutter beschwörend.
»Vater hatte auch keine Angst, als er getan hat, was er tun musste.«
»Dein Vater war ein Tapir. Ein Tapir kämpft, aber er läuft nicht blindlings in das Reich des Jaguars, damit er dann von dem zerfleischt wird.«
»Und du warst ein Fuchs«, entgegnete Chel hitzig. »Ein Graufuchs, der keine Angst hat vor den Menschen, nicht einmal vor denen, die ihn jagen. Aber du hast den Geist deines wayob verraten, als du Kiaqix verlassen hast.«
Ha’ana wandte sich ab. Es war eine schwere Beleidigung, einem Maya vorzuhalten, er sei seines wayob nicht würdig. Chel bereute ihre Worte, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Auch wenn ihre Mutter eine angespannte Beziehung zum Land ihrer Vorfahren haben mochte, so war ihr wayob nach wie vor ein Teil von ihr.
»Du hilfst vielen Menschen hier«, sagte Ha’ana nach einer Weile. »Aber wie ich höre, kommst du jedes Mal erst wenn die Zeremonie schon vorbei ist. Tief drin glaubst du genauso wenig an die Götter wie ich. Vielleicht sind wir uns ähnlicher, als du denkst.«
12.19.19.17.14 – 16. DEZEMBER 2012

22

Michaela Thane war dreizehn, als der Freispruch der weißen Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King brutal zusammengeschlagen hatten, zu schweren Ausschreitungen führte. Es kam zu Plünderungen, und zwischen Koreatown und East L.A. wurden etliche Tausend Gebäude in Brand gesteckt. Ihre Mutter lebte damals noch, und sie ließ Michaela und deren Bruder fast vier Tage lang nicht aus dem Haus. Alle drei hockten vor dem kleinen Fernseher und sahen zu, wie die Randalierer die Stadt anzündeten. Jetzt sah es in Los Angeles wieder genauso aus wie damals.
Thane hatte das Autoradio eingeschaltet und hörte zu, wie kluge Köpfe – oder solche, die sich dafür hielten – darüber diskutierten, ob es die aus dem Büro des Bürgermeisters durchgesickerten E-Mails waren, die die Unruhen ausgelöst hatten. Ein Kommentator behauptete, die geschätzten etwa zehntausend Infizierten – in ihrer Verzweiflung und in ihrer Panik – seien Urheber der Krawalle. Andere wiederum sahen den Grund in der Quarantäne: Es müsse zwangsläufig zu schweren Tumulten kommen, wenn man versuche, zehn Millionen Menschen einzupferchen. Doch Thane hatte lange genug in diesem Teil von L.A. gelebt und gearbeitet, sie wusste, dass die Menschen hier keinen Grund brauchten, um wütend zu sein – sie brauchten einen Grund, um es nicht zu sein.
Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, bevor sie auf den Parkplatz des Presbyterian Hospital einbog, und sah, dass Davies weiterfuhr; er war ihr gefolgt, um sicherzugehen, dass sie gut am Krankenhaus ankam. Und wenn sie irgendwo sicher war, dann hier: Hubschrauber kreisten, Jeeps patrouillierten auf den angrenzenden Straßen. Bewaffnete Nationalgardisten bewachten die Gebäude wie auf einer Militärbasis in Kabul.
Seit sie aus Afghanistan zurück war, hatte Thane so gut wie jeden Werktag, jede dritte Nacht und viele Wochenenden in diesem Krankenhaus verbracht. Sie hatte auch an praktisch allen Feiertagen den Bereitschaftsdienst übernommen. Ihre Kollegen dachten, sie tue das aus reiner Selbstlosigkeit, aber in Wirklichkeit wusste Thane nicht, wo sie sonst hinsollte. Das Presbyterian war ihr Zuhause. Ein Krankenhaus ist 365 Tage im Jahr und rund um die Uhr in Betrieb, genau wie eine Militärbasis. Und das Truthahnessen an Thanksgiving im Kreis der Kollegen oder das Anstoßen mit Plastikbechern voller prickelndem Cidre zum Jahreswechsel an Silvester war besser, als ganz allein zu sein.
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