Victor zog einen Stoß Blätter aus seinem Rucksack. »Das hier sind die zuletzt übersetzten Seiten. Das sollte auch den letzten Zweifler überzeugen.«
Der Kodex war der endgültige Beweis für ihr kollektives Schicksal. Er belegte nicht nur, dass die alten Maya das Jahr 2012 als das Jahr des Weltuntergangs vorausgesagt hatten, sondern dass einige wenige den Zusammenbruch vorhergesehen und überlebt hatten, weil sie aus den Städten geflohen waren. Und jetzt war es seine, Shetters, und Victors Mission, ihre Leute in Sicherheit zu bringen.
Shetter überflog die Übersetzung. »Eines Tages werden die Kinder diese Worte genauso perfekt auswendig können wie das Treuegelöbnis auf die amerikanische Nation. Kaum zu glauben, findest du nicht auch?« Nur bei Victor ließ er sich zu der freudigen Erregung und der ehrfürchtigen Bewunderung hinreißen, die er im Beisein der anderen stets unterdrückte.
Victor nickte zerstreut.
»Alles in Ordnung?«, fragte Shetter stirnrunzelnd.
»Ja, alles bestens.«
»Gibt es ein Problem?«
»Nein, nein, überhaupt nicht.«
Shetter konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. »Hast du die Pläne?«
»Die brauchen wir nicht.«
Victor reichte ihm einen schlichten Lageplan, wie jeder Besucher des Getty Museums ihn bekam. Es waren keine Größenangaben darauf eingezeichnet, keine elektrischen Leitungen, keine Einzelheiten des Sicherheitssystems. Victor würde in der neuen Welt von unschätzbarem Wert sein, aber in dieser hier war er schlecht vorbereitet.
»Vertrau mir«, sagte Victor. »Es wird kein Problem sein, in das Gebäude zu kommen.«
»Ich vertraue dir, das weißt du.«
»Gut. Gibt es sonst noch etwas zu besprechen? Wir marschieren einfach hinein und wieder hinaus.«
Shetter hatte schon vorher beschlossen, das Thema Waffen nicht anzuschneiden. Für Victor trugen Waffen und anderes Kriegsgerät maßgeblich dazu bei, dass es so schlecht um die Welt stand. In ihrer neuen Gesellschaft sollte über solche Dinge nicht einmal gesprochen werden. Shetter würde ihm, zumindest vorläufig, den Gefallen tun und seine Luger P08 in seiner Jackentasche lassen.
21

Chel raste Richtung Westen, ohne die Plünderer, die Brände, die verlassenen Fahrzeuge ringsherum wahrzunehmen.
»Er hätte einer von ihnen sein können.« Rolandos Stimme drang abgehackt aus ihrem Bluetooth. Er meinte damit, dass der Schreiber aus der versunkenen Stadt einer der drei Gründer von Kiaqix hätte sein können. Heute erschien ihr diese Idee schon nicht mehr ganz so absurd, wie es tags zuvor noch der Fall gewesen wäre.
Dennoch antwortete sie: »Wir wissen doch nicht einmal, ob diese Stadt tatsächlich existiert hat.«
»Sein Krafttier ist ein Ara. Tausende von diesen Vögeln an einem Ort würde er doch garantiert als gutes Omen deuten, meinst du nicht?«
Chel erwiderte nichts darauf. Im Geist modelte sie die überlieferte Legende zur historischen Tatsache um: Ein Adliger und seine beiden Ehefrauen fliehen aus einer Stadt, die ihrem Untergang entgegengeht, in den Urwald. Am dritten Tag ihrer Wanderung kommen sie zu einer Lichtung, wo sich auf den Bäumen ringsum hunderte scharlachrote Aras niedergelassen haben. Da sie wie alle Maya des Altertums an die große übernatürliche Macht von Vögeln glauben, sind sie überzeugt, dass dies ein vom Glück begünstigter Ort ist. Sie beschließen zu bleiben, und so wird Kiaqix gegründet.
»Wenn wir den Kodex vollständig dechiffriert haben, stellt sich vielleicht heraus, dass Paktul diese beiden jungen Mädchen geheiratet und mit ihnen dein Dorf gegründet hat«, fuhr Rolando fort.
Ein leises Knacken, und seine Stimme verlor sich wieder. Chel musste einem Auto ausweichen, das verlassen vor den La Brea Tar Pits stand, einem natürlichen Asphaltvorkommen mitten in der Stadt. Während der letzten Eiszeit waren Tausende von Tieren in der blubbernden Masse stecken geblieben und vom Mastodon bis zum Säbelzahntiger versteinert. Chel fragte sich, was in zehntausend Jahren wohl von den Menschen übrig sein würde.
Sie fuhr den Wilshire Boulevard hinunter. Jede freie Fläche war mit Graffiti vollgesprüht. Da die Polizei Wichtigeres zu tun hatte, nutzten die Sprayer die Gunst der Stunde. Chel erkannte die Tags genannten Signaturen der Crips, einer Gang in L.A., sowie von einigen anderen, die den Graffiti-Künstler Banksy nachahmten, und die Initialen von unbekannten Sprayern. Dann, westlich der La Brea Avenue, sah sie etwas an ein Gebäude geschmiert:

Der Maya-Gott Gukumatz, die gefiederte Schlange, wurde manchmal dargestellt als Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein Sinnbild für die Ernte, für den immer wiederkehrenden Zyklus der Zeit, für die Verwurzelung der Maya in ihrer Vergangenheit. Bei den alten Griechen hieß diese Schlange Uroboros und versinnbildlichte etwas ganz Ähnliches. Aber Chel wusste, dass derjenige, der dieses Zeichen an die Wand gesprüht hatte, etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Die 2012er hatten sich Gukumatz zu eigen gemacht, nicht als Symbol der Erneuerung, sondern der Zerstörung, die das Ende der Langen Zählung mit sich bringen würde – als Warnung, dass alle nach dem Schöpfungsmythos der Maya bisher erschaffenen Menschenarten ausgelöscht, von der unerbittlichen Schlange Zeit verschlungen würden.
Endlich stoppelte sich das Signal wieder zusammen, und sie konnte Rolando wieder hören. »Hallo? Bist du noch da, Chel?«
»Ja, ich bin noch da. Tu mir einen Gefallen und hol Victor ans Telefon.«
»Versuch’s auf seinem Handy. Er ist nach Hause gegangen, um irgendeinen Artikel aus den 1970er-Jahren zu suchen, der uns bei der Dechiffrierung der Akabalam-Glyphe helfen könnte. Anscheinend hortet er alte Ausgaben jahrzehntelang.«
»Ja, ich weiß.«
»Wann bist du wieder zurück?«
»Ich komme so schnell ich kann.«
»Wo fährst du hin?«
»Es gibt nur einen Menschen, der mehr über Kiaqix weiß als ich, und zu dem will ich jetzt.«
***
Die massiven Bronzetüren der Kathedrale Our Lady of the Angels waren Chel noch vor wenigen Tagen als Inbegriff der Verschwendung vorgekommen. Jetzt war sie dankbar dafür. Sie hieb mit der flachen Hand ein paar Mal dagegen. Als die Tür endlich geöffnet wurde, blickte sie in den Lauf einer Waffe.
»Mein Gott, Jinal, ich bin’s! Chel.«
»Entschuldige«, erwiderte er auf Qu’iche. Er steckte die Waffe ins Holster zurück. Chel schlüpfte an ihm vorbei, und er schloss die Tür sofort wieder. »Es hat Ärger gegeben. Da sind ein paar Typen aufgetaucht, Demonstranten, die uns über die Grenze zurückbringen wollen. Du kennst doch Karana Menchu? Ihre Medikamente sind ausgegangen, sie wollte neue kaufen, also ist sie durch den Hintereingang raus, aber diese Typen haben sie entdeckt und sie herumgeschubst.«
»Ist ihr etwas passiert?«
»Nein, nicht schlimm, aber sie hat geweint, weil sie Angst bekommen hat.«
»Hast du die Polizei gerufen?«
Jinal nickte. »Ja, aber wir stehen ziemlich weit unten auf ihrer Liste der vordringlichen Aufgaben.«
Chel sah den jungen Mann besorgt an. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sie kannte Jinal, seit er 2007 aus Honduras, wo er jahrelang auf den Tabakplantagen gearbeitet hatte, nach L.A. gekommen war. Sie berührte ihn sanft am Arm. »Danke, dass du auf die anderen achtgibst, Jinal.«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»Hast du meine Mutter irgendwo gesehen?« Chel hatte es endlich geschafft, Ha’ana zu überreden, in der Kirche Zuflucht zu suchen.
Wieder nickte der junge Mann. »Ich glaube, sie ist bei den anderen im Hauptaltarraum.«
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