Chel hatte sich nie für die Einzelheiten seiner Arbeit interessiert, und jetzt war es ihr peinlich, dass sie so wenig darüber wusste.
»Komm schon, du weißt doch, was ich meine. Ich spreche von einem historisch-astronomischen GPS«, zog er sie auf.
Chel warf ihm einen schrägen Blick zu.
»Wie Sie hoffentlich noch wissen, Dr. Manu, dreht sich die Erde um die Sonne und auch um ihre eigene Achse. Darüber hinaus sorgen die Anziehungskräfte des Mondes dafür, dass sie hin und her schwingt. Du kannst dir das ungefähr vorstellen wie einen Kreisel. Das bedeutet, dass die Bahn der Sonne sich in unserer Wahrnehmung jedes Jahr ein kleines bisschen verändert. Womit wir bei den 2012ern und ihren Theorien wären.«
»Du meinst die galaktische Synchronisation?«
Patrick nickte. »Genau. Weil sich Mond, Erde und Sonne zur Wintersonnenwende auf einer Linie befinden und wir uns dem Zeitpunkt nähern, wo die Sonnenbahn und ein gedachter Äquator der Milchstraße sich überschneiden, glauben diese Irren, dass die Menschheit ausgelöscht werden wird. Die einen sagen, durch gigantische Flutwellen, die anderen, durch eine Sonnenexplosion. Es macht ihnen nicht mal was aus, dass dieser ›Äquator‹ nur gedacht ist.«
Hoch oben über ihnen bewegten sich projizierte Sterne in langsamen konzentrischen Kreisen. Chel war es leid, sich den Hals zu verrenken, und setzte sich auf einen der gepolsterten Stühle.
»Die Erde eiert also hin und her«, fuhr Patrick fort. »Dadurch ändert sich nicht nur die Bahn der Sonne, sondern auch die der Sterne.«
»Aber selbst wenn sie im Lauf der Zeit ihre Position verändern, sind die Sterne, die wir in Los Angeles sehen, doch praktisch dieselben, die man in Seattle sieht, oder nicht?«, wandte Chel ein. »Wie soll uns das bei einer Ortsbestimmung helfen? Die Unterschiede sind doch fast nicht wahrnehmbar.«
»Für unsere Augen nicht, nein. Wegen der Lichtverschmutzung. Die gab es im Altertum nicht, deshalb sind die Beobachtungen der damaligen Astronomen präziser, als unsere es je sein werden.«
Patricks Liebe zu den Maya war während seines Studiums in Archäoastronomie entstanden. Er war absolut fasziniert von den Beobachtungen, die die Astronomen der Maya von ihren Tempeln aus gemacht, und von den Schlussfolgerungen, die sie daraus abgeleitet hatten. Sie hatten grob die Planetenbahnen bestimmt, das Prinzip der Galaxien verstanden und im Ansatz sogar die Vorstellung, dass Monde an andere Planeten gebunden sind. Für Patrick war es eine Tragödie, dass die »Sternguckerei« so ganz aus der Mode gekommen war.
Sie schauten beide zum erstarrten Himmel hinauf. »So«, sagte Patrick. »Fangen wir bei Tikal an. Wenn wir von dem ungefähren Datum ausgehen, das du anhand der Karbondatierung und der Ikonografie ermittelt hast, hat der Himmel bei der Frühlingstagundnachtgleiche so ausgesehen. Sagen wir: 20. März 930 v. Chr.« Er richtete den Laser auf ein helles Objekt am westlichen Himmel. »Deinem Schreiber zufolge war die Venus bei seiner Frühlingstagundnachtgleiche mitten am Himmel zu sehen. Wir verschieben also die Koordinaten des Sternenprojektors innerhalb des Gebietes von Petén, bis die Venus an der richtigen Stelle steht.«
Die Sterne über ihnen rotierten, bis die Venus sich am höchsten Punkt der Kuppel befand. »Vierzehn bis sechzehn Grad Nord, schätze ich«, sagte Patrick schließlich.
Das würde ein Gebiet von einer Breite von mehr als zweihundert Meilen umfassen, so viel wusste Chel. »Das ist zu vage. Geht es nicht ein bisschen genauer?«
Patrick begann von Neuem, die Sterne zu verschieben. »Das ist nur ein erstes Modell. Wir haben noch einige Dutzend weitere Angaben, die wir vom Computer analysieren lassen müssen. Wir machen so schnell es geht.«
Sie arbeiteten Seite an Seite. Die Anhaltspunkte aus dem Maya-Buch wurden in den Computer eingegeben und von diesem mithilfe der einprogrammierten Sternkarten ausgewertet. Der Sternenprojektor projizierte die Ergebnisse an die Decke der Kuppel. Patrick konzentrierte sich ganz auf die Himmelsdarstellung, und auch Chel arbeitete schweigend.
Es war nach zwei Uhr morgens, als Chels Gedanken zu Volcy auf dem Totenbett abschweiften. Ein unbehagliches Gefühl erfasste sie.
Sie war erleichtert, als Patrick das lange Schweigen brach und sie aus ihren düsteren Gedanken riss. »Und, bist du nach Petén gefahren? Bevor das alles hier losging, meine ich. Hast du die vielen Artikel veröffentlicht, die du schreiben wolltest?«
Das waren die Gründe gewesen, die sie genannt hatte, als sie sich von ihm trennte.
»Ich denke schon«, erwiderte Chel ruhig.
»Wenn das alles hier vorbei ist, wirst du für den Rest deines Lebens auf allen Veranstaltungen die Hauptrednerin sein.«
Er schien vergessen zu haben, dass sie vielleicht erst einmal ins Gefängnis wandern würde, wenn das alles vorbei war. Doch selbst jetzt, mitten in dieser lebensbedrohlichen Situation, konnte sie den neidischen Unterton hören, der in seiner Stimme mitschwang. Obwohl Patrick ein großzügiges Stipendium bekommen hatte, interessierten sich nur wenige für Archäoastronomie. Während seiner ganzen Laufbahn hatte er sich vergeblich bemüht, die Welt der Wissenschaft davon zu überzeugen, dass seine Arbeit wichtig war. Auf jeder Konferenz stand er ganz am Schluss auf der Liste der Vortragsredner, er veröffentlichte nur in Zeitschriften von fragwürdigem Ruf, und seine Manuskripte wurden von den Verlagen abgelehnt.
Chel hatte erst an dem Abend, als sie die renommierteste Auszeichnung der Amerikanischen Gesellschaft für Linguistik erhalten hatte, erkannt, wie tief Patricks Konkurrenzneid saß. Sie waren bei ihrem Lieblingsitaliener und hatten die zweite Flasche Sangiovese geleert, als Patrick das Glas erhob und sagte:
»Auf dich! Darauf, dass du dir das richtige Spezialgebiet ausgesucht hast.«
»Was willst du damit sagen?«
»Gar nichts«, hatte er erwidert und einen kräftigen Schluck Wein genommen. »Ich bin bloß froh, dass sich Epigrafie so großer Wertschätzung erfreut.«
Sooft ein Artikel von ihr erschien oder sie mit einem weiteren Preis ausgezeichnet wurde, gab er sich die größte Mühe, Haltung zu bewahren, aber seine Freude wirkte aufgesetzt. Irgendwann erzählte Chel ihm nur noch von den wenigen negativen Seiten ihres Jobs: von Studenten, die nicht mitarbeiteten, oder von der Interessenpolitik des Getty-Kuratoriums. Sie berichtete ihm nur noch das Schlechte, nicht mehr das Gute; das war einfacher. Doch mit jeder Kleinigkeit, die sie ihm nicht erzählte, spürte sie, wie die Distanz zwischen ihnen größer wurde.
Patrick korrigierte das Sternenmuster an der Decke des Planetariums ein weiteres Mal. »Ich bin wieder mit jemandem zusammen.«
Chel schaute auf. »Wirklich?«
»Ja. Seit ein paar Monaten. Sie heißt Martha.«
»Was Ernstes?«
»Glaub schon«, erwiderte er. »Ich wohne seit einer Weile bei ihr. Sie war gar nicht begeistert, als ich ihr sagte, dass ich mich heute Abend mit dir treffe, aber sie hat verstanden, wie ernst die Lage ist. Ganz schön verrückte Ausrede, um sich mitten in der Nacht mit seiner Ex zu treffen.«
»Ich hab gar nicht gewusst, dass jemand unter sechzig Martha heißen kann.«
»Oh, sie ist ziemlich weit südlich von sechzig, wenn du das meinst.«
»Aha, ein Kind also. Noch besser.«
»Sie ist fünfunddreißig und erfolgreiche Theaterleiterin. Und sie will heiraten.«
Chel konnte es nicht fassen, dass er so kurz nach der Trennung von ihr ans Heiraten dachte. »Wenigstens arbeitet ihr in verschiedenen Bereichen.«
Patrick sah sie an. »Wie meinst du das?«
»Na ja, so gibt es bei euch beruflich wenigstens keine Unstimmigkeiten.«
»Du glaubst, das war unser Problem?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Kann sein.«
»Das Problem war nicht, dass ich dich als Konkurrenz betrachtet habe, Chel«, sagte er langsam. »Solange du nicht erkennst, dass du die Erwartungen, die dein Vater vielleicht in dich gesetzt hat, schon längst erfüllt hast, wirst du nicht glücklich sein. Oder imstande, jemand anderen glücklich zu machen.«
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