Diese Worte kamen einem Todesurteil gleich. Eine Angst erfasste mich, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Die Augen aller am Hofe waren auf mich gerichtet, in Vorbereitung auf das Blutvergießen. Sogar der Ara in seinem Käfig neben mir konnte es spüren. Auxila war für sehr viel weniger geopfert worden. Sie würden mir auf dem Altar das Herz herausreißen! Ich sah zu Jacomo, dem Zwerg, hinüber, der mit Zimt und Chili gewürzte Schokolade schlürfte. Da wusste ich, dass nicht die Götter dem König etwas zugeflüstert hatten, sondern ein boshafter Zwerg.
Mit Furcht im Herzen sprach ich:
– Jaguar Imix, erhabener, allerheiligster Herrscher, ich habe in der Ratsversammlung nur die Stimme erhoben, um zu fragen, ob dies der günstigste Zeitpunkt für den Bau der neuen Pyramide sei. Diese Pyramide soll zehn große Zyklen überdauern, damit dein Name als der heiligste von allen für immer im Gedächtnis der Menschen bleibe. Es ist mein Wunsch, die Mauern mit tausend Zeichen bemalen zu dürfen, die dich darstellen, aber ich möchte nicht auf armseligen Kalkstein malen, nur weil wir nicht die Männer und nicht das Material haben, um einen Bau zu errichten, der deiner würdig ist. –
Reumütig senkte ich den Kopf. Da spie Jaguar Imix die Baumrinde auf den Boden und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Seine Zähne waren verziert mit Einlagen aus Jade und Perlen, die schönsten Füllungen, die in Kanuataba je ausgeführt wurden. Jaguar Imix lächelt gern und erinnert jene unter ihm daran, welchen Preis sie haben. Er fordert bedingungslose Ergebenheit von seinen Untertanen, und ich habe viele Male erlebt, wie er es genoss, wenn jemand sich vor ihm in den Staub warf, nur um denjenigen dann doch hinrichten zu lassen, noch bevor der große Stern ein weiteres Mal über den Himmel gewandert war.
Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass die Vollstrecker kamen. Sie würden mich auf die Pyramide hinaufführen und mich opfern, wie sie es mit Auxila getan hatten.
Doch als der König sprach, sagte er etwas, was ich nicht erwartet hatte:
– Paktul, Mann von niedrigem Stande, dir soll vergeben sein. Ich verzeihe dir deine Worte der Missbilligung und vertraue darauf, dass du bei der Vorbereitung zum heiligen Fest zu Ehren Akabalams Wiedergutmachung leistest. -
Ich öffnete die Augen. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Und der König fuhr fort:
– Mein Sohn, der Prinz, findet Gefallen an dir, deshalb soll dir dies eine Mal vergeben sein, damit du Rauch Lied lehren kannst, seinem durch das Blut bestimmten Schicksal zu folgen. Du wirst ihn in der Macht Akabalams unterweisen, dem gepriesenen Gott, der sich mir geoffenbart hat. Du wirst Rauch Lied in den hohen Werten des bevorstehenden Festes unterweisen –
Zitternd stammelte ich:
– Hoheit, ich habe in den großen Büchern nachgesehen, aber ich konnte diesen Akabalam nicht finden. Ich habe überall gesucht, doch nirgends in den großen Zyklen der Zeit wird er erwähnt. Ich möchte den Prinzen gern unterweisen, aber welche Bücher soll ich zurate ziehen? –
– Halte dich weiter an die großen Bücher, die du so gut kennst, niederer Schreiber. Und wenn das Fest zu Ehren Akabalams vorbereitet ist, werde ich dir alles anvertrauen, damit du es in neuen heiligen Büchern niederschreiben kannst und das Wissen an Rauch Lied und an die göttlichen Könige nach ihm weitergegeben wird. –
Damit entließ er mich. Mir war schwindlig von dem neuen Leben, das der König mir eingehaucht hatte.
Keine Aufgabe ist so wichtig wie die, den heiligen Prinzen zu unterrichten. Das hatte mich davor bewahrt, geopfert zu werden. Ich versuchte, meine Sorgen zu unterdrücken, als ich in die königliche Bibliothek ging, wo der Prinz mich erwartete. Nur der Vogel in seinem Käfig, die Verkörperung meines Geistes, teilte meine Furcht.
Die königliche Bibliothek, wo ich den Prinzen unterrichte, ist der wundersamste Ort in unserer einzigartigen Terrassenstadt. Hier stand ich schon unter dem Baum der Erkenntnis, einer Sammlung dessen, was die weisen Männer im Laufe von zehn großen Drehungen des Kalenderrades zusammengetragen haben. Hier gibt es Bücher aller Art, die um ihrer heiligen Weisheit willen gelesen werden. In diesen Büchern wurde das umfangreiche Wissen der Astronomen gesammelt, die von der Sternenwelt als von der Schlange mit den zwei Köpfen sprechen.
Ich betrat die Bibliothek, einen Raum aus Stein, behängt mit Tuchen, die im schönsten, königlichsten Blau gefärbt sind. Durch das viereckige Fenster fällt weißes Licht auf das Tuch. Bei Sonnenaufgang am Tag der Sommersonnwende scheint die Sonne direkt herein, ein Sinnbild für den Beginn der Wissbegier, die unsere Vorfahren in diese Welt gebracht haben. Viele bedeutende Bücher, ganze Stapel davon, liegen auf den Regalen, manche noch zusammengefaltet; sie stammen aus einer Zeit, als es das aus Feigenbaumrinde hergestellte Papier in Fülle gab und ein Schreiber nicht hätte stehlen müssen, um dieses Buch zu malen.
Es ist über tausend Sonnen her, dass der König mich mit der Aufgabe betraute, die Weisheit unserer Vorfahren an den königlichen Prinzen weiterzugeben und ihn in das Geheimnis der Zeit einzuweihen, jene niemals endende Schleife, die zu ihrem Anfang zurückkehrt. Nur wer in die Vergangenheit blickt, kann von der Zukunft träumen.
Rauch Lied, der Prinz, ist ein kräftiger Junge von zwölf Drehungen des Kalenderrades. Er hat die Augen und die Nase des Königs, seines Vaters, aber er ist nicht rachsüchtig, und als ich, den Käfig mit dem Vogel in der Hand, die Bibliothek betrat, war seine Miene sorgenvoll.
Er sprach:
– Ich habe gesehen, wie Auxila geopfert wurde, mein Lehrer. Und auf dem Platz habe ich seine Tochter gesehen, Geflammte Feder, der ich gewogen bin. Ich sah, wie sie um ihren Vater trauerte. Kannst du mir sagen, wo sie jetzt ist? –
Ich blickte zu Kawil hin, dem Diener des Prinzen, der immer in seiner Nähe bleibt, bis der Unterricht zu Ende ist. Kawil ist ein guter Diener und sehr groß. Er sagte nichts, er starrte nur geradeaus.
Es war zu schmerzlich, darüber zu sprechen, welches Schicksal Auxilas Töchtern bevorstand, deshalb antwortete ich:
– Sie ist am Leben, Prinz, aber du musst Geflammte Feder aus deinen Gedanken verbannen, denn sie ist unberührbar. Du musst dein Augenmerk auf deine Studien richten. –
Der Junge schien betrübt. Doch dann zeigte er auf den Ara und sprach:
– Was ist das, mein Lehrer? Was hast du mir da mitgebracht? –
Mein Krafttier ist sehr friedlich und umgänglich, und so ließ ich den Vogel aus dem Käfig und zeigte ihn dem Prinzen. Wir fassten noch einmal seine Kenntnisse über Krafttiere zusammen, und ich erklärte ihm, dass mein Krafttier in Gestalt dieses Ara zu mir gekommen und ich eins mit dem Vogel geworden sei, indem ich ihm von meinem Blut zu trinken gegeben hatte. Dann flog der Ara, meine Tiergestalt, durch den Raum, was dem Jungen große Freude bereitete. Wir flogen zum Dach hinauf und wieder herunter, wir umkreisten den Prinzen und landeten auf seiner Schulter.
Mein Krafttier, so erzählte ich, habe sich auf der weiten Reise, die jeder Ara mit seinem Schwarm zurücklegt, in Kanuataba niedergelassen. In ein paar Wochen würden wir weiterfliegen, dorthin, wohin unsere Vogelvorfahren seit Tausenden von Jahren zu jeder Erntezeit zurückkehren.
Ich sprach:
– Jeder Mensch muss sich über sein alltägliches menschliches Dasein hinaus erheben, und unsere tierische Gestalt ist die Verkörperung dieses Ideals. –
Rauch Lieds tierisches Ich ist der Jaguar, wie es jedem künftigen König gebührt. Ich sah zu, wie er den Vogel aufmerksam betrachtete und offenbar überlegte, wie der Ara meine Brücke zu den himmlischen Mächten sein könne. Es erfüllt mich mit Trauer, dass Rauch Lied sein Krafttier vielleicht nie mehr sehen wird. Nur noch wenige heilige Jaguare durchstreifen das Land.
Читать дальше