Chel begriff sofort, was das bedeutete. »Wir könnten versuchen, die Position der Venus zu dem Zeitpunkt zu bestimmen, als Paktul das Buch schrieb.«
»Ich gehe davon aus, dass sich noch mehr Hinweise auf Sternbilder im Text finden«, sagte Rolando. »Der Computer sucht schon danach.«
»Wir brauchen einen Experten für Archäoastronomie«, warf Victor ein. »Patrick arbeitet manchmal doch auch mit Sternbildern, oder?«
Chels Magen zog sich zusammen.
»Weiß vielleicht irgendwer, wo wir ihn finden können?«, fragte Rolando.
Chel wusste es natürlich. Patrick hatte ihr eine Mail geschickt, als die Quarantäne verhängt wurde, um sich zu erkundigen, ob es ihr gut ging. Um ihr zu sagen, dass er für sie da sei, falls sie irgendetwas brauchte. Sie hatte ihm nicht einmal geantwortet.
17

Meine scharlachroten Federn sind blau und gelb gestreift. Als ich hierherkam, war ich halb verhungert, und ich wäre vielleicht gestorben, wenn er mich nicht gerettet hätte. Ich flog mit meinem Schwarm, aber ich habe die anderen verloren, als wir durch Kanuataba zogen, und nur der Schreiber erhielt mich am Leben. Ich fraß die Würmer, die er aus der Erde zog. Es hat so lange nicht mehr geregnet, dass sogar die Würmer dürr und schrumpelig sind.

Ein scharlachroter Ara, der in meine Höhle geflogen ist, gibt mir, Paktul, königlicher Schreiber von Kanuataba, Kraft und Hoffnung. Bei meiner Geburt wurde mir der Ara als mein Krafttier zugewiesen, und immer wenn ich in meinem Leben einem begegnet bin, war er ein wichtiges Omen. Dieser hier kam in der Nacht, als Auxila ermordet wurde. Er war verletzt, und ich gab ihm Würmer zu fressen, weil ich keine Samenkapseln habe, die ich ihm geben könnte, und dann hieß ich ihn mit Blutstropfen aus meiner Zunge willkommen. Dadurch wurden wir eins.
In meinen Träumen nehme ich die Gestalt des Vogels an. Ich bin dankbar, dass er da ist, so wie er froh ist, dass ich da bin. Es kommt nicht oft vor, dass ein Krafttier seinen Menschen leibhaftig aufsucht, und das ist jetzt die einzige Freude, die ich habe.
Denn außer in unseren Träumen hat es immer noch nicht geregnet, und die Menschen von Kanuataba werden mit jedem Tag hungriger. Mais und Bohnen und Pfefferschoten sind schon fast so knapp wie Fleisch, und in ihrer Not essen die Menschen jetzt schon die dürren Zweige von Sträuchern.
Ich gebe meine Rationen den Kindern meiner Freunde. Ich halte oft Zwiesprache mit den Göttern, daher bin ich das Fasten gewöhnt, ich komme mit wenig aus.
Auxilas Tod vor zwölf Sonnen lässt mir keine Ruhe. Auxila war ein guter Mann, ein heiliger Mann. Sein Vater nahm mich bei sich auf, als ich ein kleiner elternloser Junge war.
Ich habe nur meinen Vater gekannt, da meine Mutter starb, als sie mich aus ihrem Schoß presste. Mein Vater war nicht in der Lage, sich allein um ein Kind zu kümmern, aber der König, Jaguar Imix’ Vater, erlaubte ihm nicht, sich eine zweite Frau zu nehmen. Da floh mein Vater zu dem großen See am Rande des Meeres, im Land unserer Vorfahren, und er schloss sich ihnen an, so wie der Vogel sich bald wieder seinem Schwarm anschließen wird. Er kam nie zurück. Ich war eine Waise, und Auxilas Vater nahm mich in seinem Hause auf und machte Auxila zu meinem Bruder.
Jetzt ist mein Bruder tot, ermordet von dem König, dem ich diene.
*
Ein halber Mond stand am Himmel, und der Abendstern würde durch Xibalba wandern, als ich mich mit meinem Ara auf den Weg zum Palast machte. Ich ließ mir meine Trauer über Auxilas Tod nicht anmerken, denn es wäre unklug, Missfallen über eine Entscheidung des Königs zu äußern. Ich war aus Gründen, die ich nicht kannte, zu ihm befohlen worden.
Der Ara und ich gingen an einigen Adligen vorbei, die müßig im großen Innenhof standen. Maruva, ein Mann aus dem Rat, der noch nie eine eigene Meinung vertreten hat, lehnte an einer der großen Säulen, die den Innenhof umgeben. Er wirkte zwergenhaft klein vor der sieben Mann hohen Säule. Er unterhielt sich mit einem Botschafter des Königs, der bekannt dafür ist, dass er vor den Toren der Stadt unter der Hand Rauschgifte verkauft. Die beiden musterten mich misstrauisch und tuschelten, als ich vorbeiging.
Als ich beim Palast angekommen war, führte eine der Wachen mich in die Gemächer des Königs. Er und seine Günstlinge hatten gerade ein Mahl eingenommen – noch so ein geheimes Ritual, an dem nur er und seine Speichellecker teilnehmen dürfen. Diese Männer hatten gerade ein Festmahl genossen. Der Geruch von Weihrauch stieg mir in die Nase und überlagerte den Geruch von gebratenem Fleisch. Der Weihrauchduft war bezeichnend. Ich bin schon öfter dazugekommen, als das Essen gerade vorbei war, und jedes Mal ist die Luft erfüllt vom bitteren Geruch des Weihrauchs, den sie verbrennen, um ihr Mahl zu heiligen. Die geheime Mischung der Kräuter, die verbrannt werden, ist eine Quelle der Macht für einen König, und der Duft von Weihrauch erfüllt Jaguar Imix mit großem Stolz. Als ich den Ara absetzte und mich hinkniete, um den widerlichen Kalksteinboden zu küssen, hatte sich der Duft verändert, ich konnte ihn nicht mehr auf der Zunge schmecken so wie früher.
Jaguar Imix rief mich zu sich und befahl mir, mich auf den Boden zu Füßen seines Throns zu setzen, der bei der Sonnenwende von der Sonne und bei Beginn der Erntezeit vom Mond angestrahlt wird. Jaguar Imix’ Züge sind scharf geschnitten, was ihm einen Ausdruck von Vornehmheit verleiht, aus dem er seine Macht schöpft. Seine Nase ist so spitz wie der Schnabel eines Vogels, und er zeigt seine flache Stirn als Zeichen seiner göttlichen Macht. Er gewandet sich in Baumwollstoffe, die auf den königlichen Webstühlen gewebt und in königlichem Grün gefärbt sind, und man sieht ihn fast nie ohne seinen Kopfputz in Form eines Jaguars.
Jaguar Imix, der heilige Herrscher, sprach. Seine Stimme dröhnte so laut, dass alle es hören konnten:
– Wir werden den großen Gott Akabalam ehren und ihm danken für die vielen Gaben, die er meinem souveränen Reich gemacht hat. Lasst uns ihn preisen! Wir werden dir, Akabalam, ein heiliges Festmahl widmen, ein kleines Zeichen des Dankes dafür, dass du uns mit deinen vielen Gaben gesegnet hast. Wir werden für alle Einwohner von Kanuataba ein Mahl zubereiten und so viel Fleisch auftischen, wie diese Stadt es noch nie gesehen hat. Mit diesem Fest wollen wir Akabalam ehren und ihn bitten, den Bau der neuen Pyramide unter seinen göttlichen Schutz zu stellen. –
Ich war verwirrt. Was für ein Fest meinte er? Und woher sollte in unserer darbenden Stadt das Essen für ein solches Fest kommen?
Ich sprach:
– Verzeihung, Königliche Hoheit, aber es soll ein heiliges Fest gefeiert werden? –
– Wie es die Stadt in hundert Drehungen des Kalenderrades nicht gesehen hat! –
– Was für ein Fest ist das? –
– Das wirst du rechtzeitig erfahren, Schreiber. –
Jaguar Imix zeigte auf eine Konkubine, die zu uns getreten war, und sie griff in ein kleines Gefäß neben ihr und nahm ein Stück Baumrinde heraus. Sie schob es ihrem Gebieter in den Mund, und er fuhr kauend fort zu sprechen:
– Paktul, Diener, die Götter haben mir erzählt, als ich mich in Trance befand, dass du den Bau des neuen Tempels missbilligst. Deine Bedenken hinsichtlich des von Akabalam befohlenen Festes bestätigen, was die Götter mir gesagt haben. Du weißt doch, dass ich alles sehe, Schreiber. Ist es wahr, was die Götter sagen? Dass du bezweifelst, dass ich ihr Gefäß bin? –
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