Während Wagner dem Gerangel im Eingangsbereich entkam und das etwas geordnetere Innere durchschritt, immer bestrebt, den Köbessen nicht im Weg zu sein, die einen notfalls einfach umrannten, scannte sie ihre Umgebung. In der Schwemme und im dahinter liegenden Saal war es gerammelt voll. Sie ging weiter in den Biergarten und schlenderte zwischen den Tischchen mit den abgeblätterten gelben Klappstühlen hindurch. Kein Platz war frei. Im Vorübergehen schaffte sie es, einem der Bierträger ein frisch gezapftes Kölsch abzuringen, das sie durstig austrank – 0.2 Liter verdampften an einem warmen Sommerabend wie diesem praktisch auf der Zunge. Dann begab sie sich erneut ins Innere und in den angrenzenden Schlauch, den ältesten Teil der Schänke, wo die Anordnung der
Tische speziell im mittleren Teil an eine Mischung aus holzgetäfeltem Großraumwaggon und Legebatterie erinnerte. Aber auch hier war kein O’Connor auszumachen. Sie trat wieder hinaus auf die Friesenstraße.
Schräg gegenüber lag das Klein Köln, von dem der Vorstand der Stadtsparkasse gesagt hatte, es träfen sich dort noch richtige Menschen. Die Einschätzung der Sachlage war ein bisschen schick. De facto hatte das Klein Köln den Weg von einer halbseidenen Boxerkneipe zur Kultstätte der Letzten ihrer Art gefunden. Die kriminelle Szene Kölns hatte seit der massiven Zuwanderung von albanischen, tschechischen und russischen Banden einen anderen Ton bekommen. Seit der legendäre Kölner Gangster Schäfers Nas’ sich voller Betroffenheit über die Zunahme sinnloser Brutalität in den Straßen der einstmals gemütlichen Rheinmetropole geäußert hatte, waren auch wieder ein paar Jahre vergangen. Hatte man Glück, traf man im Klein Köln die Überbleibsel aus den Tagen, als man Nutten ein Herz aus Gold nachsagte, und Luden, sie schlügen Freier, aber keine Frauen. Mit ziemlicher Gewissheit stieß man auf ein paar sonderliche Typen wie den Cowboy, einen alten Mann mit schlohweißer Alvin-Stardust-Frisur und besticktem Hemd, der Stunden swingend neben der Musicbox verbrachte und nie sein entrücktes Grinsen ablegte, oder angealterte Ausgaben von Olivia Newton-John, deren Garderobe den ersten Folgen von Dallas zu entstammen schien. Der Rest war Sightseeing, Milieu gucken und Schlager mitgrölen, die einem woanders Schauder des Entsetzens über den Rücken gejagt hätten.
Wagner bezweifelte, dass O’Connor sich dort aufhielt, selbst wenn er hineingegangen war. Vor ein Uhr morgens war im Klein Köln nichts los. Dennoch warf sie einen Blick hinein, aber wie erwartet konnte sie den Physiker nirgendwo ausmachen.
Blieb Jameson’s, der irische Pub wenige Meter weiter.
Jameson’s war ein Phänomen. Ziemlich groß und voller Versatzstücke, hatte er mit dem wahren Irland etwa so viel zu tun wie Hollywood mit der Wirklichkeit. Allerdings auch nicht weniger. Jameson’s schaffte es, selbst den Kölner Iren so etwas wie den Traum von Irland zu verkaufen. Man hatte das Original-Interieur echter Pubs zusammengetragen und abenteuerlich kombiniert. Herausgekommen war eine gastronomische Chimäre, in der Liedermacher und Popgruppen auftraten, korrekt gezapftes Guinness inklusive Kleeblatt im Schaum und frische Galway-Austern mit Brownbread serviert wurden und so ziemlich jeder Whisky zu haben war, den Kenner schätzten. Das Personal sprach englisch, weil es vorwiegend tatsächlich von den britischen Inseln stammte. Die Gäste, sofern deutsch, zollten dem Charme des Authentischen Tribut, indem sie ebenfalls englisch sprachen. Natürlich blieb Kölns beliebtester Pub dennoch ein Disneyland, aber immerhin eines, in dem man echte Iren und wahre Fans der grünen Insel vorfand.
Und mit aller Wahrscheinlichkeit Prof. Dr. Liam O’Connor.
Wagner erblickte ihn, kaum dass sie die Flügeltüren mit den altmodisch geschliffenen Scheiben passiert hatte. Er saß auf einem Hocker an der Bar, offenbar ins Gespräch mit einer Gruppe jüngerer Leute vertieft. Als Wagner näher kam, stellte der Mann hinter der Bar gerade eine Phalanx Gläser vor sie hin, hohe Pints schwarzen Inhalts mit sahnig weißer Schicht oben drauf, sowie kleinere Gläser voller Sonnenlicht. O’Connor schien seinen Bedarf an Mineralwasser im Maritim gedeckt zu haben. Fast wirkte es beruhigend auf Wagner, dass er wieder zu seinen Usancen zurückgefunden hatte.
Sie stellte sich kommentarlos neben ihn. Da O’Connor ihr halb den Rücken zuwandte, nahm er den Neuzugang an der Bar nicht wahr. Wagner gab dem Barmann ein Zeichen und deutete auf den Whisky, den der Physiker vor sich stehen hatte.
»Jameson 1780, twelve years old«, sagte der Barmann und verharrte einen Moment in Erwartung ihrer Bestellung, den Körper halb schon neuen Aufgaben zugedreht. Wagner nickte. Er eilte wortlos davon, zapfte ein paar Pints und stellte sie vor eine andere Gruppe Leute hin, bevor er eine bauchige Flasche aus dem Barschrank holte. Ein weiteres Glas füllte sich mit flüssigem Gold, und Wagner fand sich im Besitz ihres ersten irischen Whiskys, zumindest soweit sie sich erinnern konnte.
Sie roch daran. Ein Duft von Heidekraut und seltsamerweise Sherry stieg ihr in die Nase, weich und süßlich. Sie nippte und fand den Geschmack durchaus angenehm. Sie dachte daran, wie O’Connor den Glenfiddich in den Ausguss geschüttet hatte. Spaßeshalber suchte sie nach dem Etikett zwischen den unzähligen Whiskyflaschen auf dem Bord des Barschranks und fand die Flasche versteckt im obersten Regal. Auch hier stellte man ihn offensichtlich nicht gern in den Vordergrund.
Aus dem hinteren Teil des Pubs mischte sich Musik in die Geräuschkulisse. Jemand sang live zur Begleitung von Gitarre und Fiedel. Es klang wie Fool on the Hill in einer Bearbeitung von Brendan Behan oder Sean O‘Casey.
Leise begann Wagner mitzusummen. Sie hatte keine Eile. Ihr war klar, dass O’Connor wenig Lust verspürte, zurück zu der Abendgesellschaft im Maritim zu fahren. Interessanter wäre herauszufinden, worauf er stattdessen Lust hatte, und ihn notfalls daran zu hindern.
Die Gruppe um O’Connor sprach englisch. Wagner hörte nicht hin, aber was an ihr Ohr drang, klang weder nach physikalischem Fachgeschwafel noch überhaupt nach irgendetwas aus O’Connors literarischer Domäne. Es schien um Flüsse und Boote zu gehen und einen ominösen Lebensmittelladen, der eigentlich keiner war. Nach einer Weile drehte sich O’Connor um, weil das Gold aus seinem Glas verschwunden war, hob die Rechte, um den Barkeeper heranzuwinken, räusperte sich und sah Wagner an.
»Was trinken Sie da?«, fragte er ohne das geringste Erstaunen.
»Jameson«, sagte sie.
O’Connor hob anerkennend die Brauen.
»1780, um genau zu sein«, fügte sie hinzu. »Zwölf Jahre alt.«
»Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen«, sagte O’Connor. »Im Übrigen wusste ich, dass Sie früher oder später hier aufkreuzen würden. Darf ich Sie mit Scott und Mary bekannt machen? Der Mann mit der Mütze daneben hört auf den Namen Donovan. Das heißt, noch hört er, wenngleich er sich einem Stadium nähert, das eine gewisse Amnesie mit sich bringt. Man will sich nicht mehr kennen, weil man dann auch sein Zuhause nicht mehr kennen muss und keinen Grund hat, es aufzusuchen. Hier haben wir noch Angela, sie ist Donovans Freundin, was mir völlig unverständlich ist. Leute, die Kleine da heißt deutscher Rechtsauffassung nach eigentlich Gaby oder Heidi, aber sie weigert sich, und darum heißt sie Kika. Bietet ihr keinen Hocker an, sie sitzt bereits.«
O’Connor hatte die Vorstellung auf Englisch vollzogen. Dabei schien er jede dritte Silbe einer gewissen Dehnung zu unterziehen, so dass sich die Sätze anhörten wie durchgeknetet. Wagner schätzte, dass die anderen Iren waren. Sie schüttelte Hände.
»Wäre es ein Problem für Sie zu erfahren, dass man Sie im Maritim vermisst?«, sagte Wagner, nachdem die Gruppe ihr ein Guinness aufgenötigt und mit ihr angestoßen hatte.
Читать дальше