»Er fährt auf den Frachtflughafen«, sinnierte O’Connor.
Mahder grinste.
»Was dachten Sie denn? Der POTUS zeigt seinen Pass, geht durch den Zoll und wartet am Gepäckband auf sein Köfferchen?«
»Ich hatte überhaupt keine klare Vorstellung«, sagte O’Connor. »Der Luxus eines eigenen Vorfelds wurde mir noch nicht zuteil.«
»Darf ich Sie was fragen?«
»Natürlich.«
»Sie sind doch bestimmt ein wohlhabender Mann. Warum leisten Sie sich keinen eigenen Flieger?«
Da war er wieder, der hohle Neid, verpackt in Anteilnahme.
»Es wäre langweilig«, sagte O’Connor. »Man ärgert immer dieselbe Crew.« Er wies auf ein großes Gebäude, das in die westlichen Vorfelder hineinragte. »Was ist das hier?«
»Die Lärmschutzhalle. Hier auf der Luftaufnahme können Sie sie gut erkennen, ein ziemlicher Brocken. Wir testen darin Turbinen, darum mussten wir eine nach oben offene Halle anschaffen. Wenn die AFO in Richtung Frachtflughafen rollt, fährt sie über die beiden anderen Landebahnen auf die westliche Seite, dreht hier ein weiteres Mal, sehen Sie, über 14R auf Rollbahn T und kommt auf dem Vorfeld Fracht West zum Stehen. Es liegt gleich rechts von der Lärmschutzhalle, genau hier.«
»Und da verlässt Clinton die Maschine?«
»Alle Staatsgäste steigen da aus. Das VIP-Zelt steht da, Presse, Auswärtiges Amt, Polizei und Bundeswehrbataillon. Clinton schreitet die Ehrenformation ab, schüttelt ein paar Hände und steigt in seine Limousine. Der Frachtflughafen wird von der Heinrich- Steinmann-Straße durchquert, wir sind sie heute ein Stück entlanggefahren. Die Fahrzeugkolonne verlässt das Vorfeld, biegt auf die Straße ein und verlässt den Flughafen Richtung Autobahn.«
»Perfekt«, sagte O’Connor. »Er muss durch kein Gebäude.«
»Nein, nur dazwischen durch. Aber auch das ist kein Problem. Alle Fenster und Türen, alle Hangars und Hallen werden geschlossen, jeder Raum wird gecheckt sein.«
»Es gibt eine Menge Gebäude da.«
»Alles, was wichtig ist«, nickte Mahder. »Sie haben’s ja heute gesehen. Schräg gegenüber der Lärmschutzhalle liegt der Tower, davor das UPS-Gebäude…«
O’Connor warf einen Blick auf eine der Luftaufnahmen. »Beide recht hoch, nicht wahr?«
Mahder schwieg eine Sekunde. »Na ja, der Tower ist natürlich das höchste Gebäude überhaupt. Dann haben wir hier Terminal West, Luftpostleitstelle, Luftsicherheit, Lkw-Verladestation und Zollgebäude, Gerätehallen, Frachthallen, weiter hinten die Feuerwehr und noch dies und das. Zur anderen Seite der Straße die Hangars 1 bis 3, das Lufthansagebäude, und so weiter und so fort.«
»Und die sind alle gesichert?«
»Da kann nichts passieren«, sagte Mahder im Brustton der Überzeugung. Bei allem Unmut, den er an den Tag legte, schien er darauf wiederum stolz zu sein. »Die Dächer sind übersät mit Scharfschützen. Ich habe sagen hören, sie sind sogar auf einen Angriff aus der Luft vorbereitet.«
O’Connor betrachtete stirnrunzelnd den Frachtkomplex. Mahder hatte vermutlich Recht. Wie sollte man eine Waffe in diese komprimierte Sicherheitszone einschmuggeln?
Derjak schießt.
Womit schießt er?
Derjak erschießt den POTUS.
POTUS.
POTUS war kein Eigenname. Es war eine Abkürzung. War auch Derjak eine Abkürzung?
»Und die Wagenkolonne fährt hier entlang?«
»Sie wartet auf der anderen Seite der Lärmschutzhalle«, sagte Mahder geduldig. »Hier. Dann–«
»Auf GAT 1?«
»Ja. GAT steht für General Aviation Terminal. Das GAT 1 ist für die kleinen Learjets vorgesehen, mit denen die Außenminister zum Teil gekommen sind. Sie werden da geparkt, während große Maschinen wie die AFO oder Jelzins Iljuschin auf den nahe gelegenen Militärflughafen…«
O’Connor hörte nicht mehr zu.
Das GAT. Dasgat. Daskat. Es gab tausend Möglichkeiten für ein Missverständnis.
Im selben Moment wurde ihm klar, was sie vorhatten und wie sie es bewerkstelligen würden.
Derjak war kein Name, kein Akronym und keine Person. Es war überhaupt kein zusammenhängendes Wort. Der war nichts weiter als der männliche Artikel.
Der YAG!
Alles fügte sich zusammen. Kuhn musste eine Unterhaltung belauscht haben. Offenbar hatte er aufs Geratewohl eingegeben, was ihm bedeutsam vorgekommen war, in großer Hast und ohne den Sinn zu verstehen, aber er hatte ins Schwarze getroffen. Pieza datspi- glen. Piez Adapt. Spiegel. Piezomotoren in einem Adaptiven Spiegel. Ein YAG und ein System von Spiegeln, wie in der klassischen Physik. Ein Objektiv, um das Ziel ins Visier zu nehmen. Das war es. Zugleich erledigte sich die Frage, wie jemand eine Waffe in den Flughafen schmuggeln sollte und was mit Clinton passieren würde, sollte er getroffen werden.
»He. Dr. O’Connor.«
Er reagierte nicht. Sein Geist versuchte blitzschnell, sämtliche Möglichkeiten durchzugehen. Er konnte auf ein umfassendes Wissen zurückgreifen. Das Wissen eines Mannes, der sich bis zur Nobelpreisreife mit Photonenforschung beschäftigt hatte und jeden nur erdenklichen Aufbau kannte. Während er in fieberhafter Eile Paddys
Arbeit zu rekonstruieren suchte, konnte er kaum fassen, dass er nicht schon eher darauf gekommen war.
Andererseits, es war absurd. Kaum vorstellbar, dass jemand mit so etwas rechnete. Und dass es überhaupt klappte.
Konnte es klappen?
»Dr. O’Connor? Ist Ihnen nicht gut?«
»Sie haben einen YAG«, murmelte er. Langsam sah er auf und in Mahders besorgtes Gesicht. »Ich weiß es.«
»Was wissen Sie?«
»Ich weiß, was sie vorhaben.«
Mahder wirkte verwirrt.
»Sie? Wer? Wovon reden Sie überhaupt?«
»Wo hat Paddy sonst noch gearbeitet außer im neuen Terminal?«
Mahder starrte ihn an.
»Wollen Sie mir nicht sagen–«
»Später. Wo?«
»Na, hier.« Mahders Finger fuhr über die Luftaufnahme und verweilte nacheinander auf einigen Gebäuden. »Terminal West, die Luftpostleitstelle, Hangar 1. Ach, und da drüben, auf der anderen Seite, das ist eine ganze Strecke weit weg, an den Zwischenlagern.«
O’Connor trat näher heran. Das Foto zeigte den Frachtflughafen klar und detailliert, aber dennoch aus beträchtlicher Höhe. Kaum eines der fraglichen Bauwerke wies die erforderliche Höhe auf. Und sie brauchten Höhe, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.
Oder unterlag er einem gewaltigen Irrtum?
Nein, es ist möglich, dachte er. Es steht in der Wahrscheinlichkeit nicht weit hinter einem UFO-Angriff zurück, aber es ist zu machen.
Also doch im Terminal 2?
Es kam darauf an, wie groß der YAG war. Um ein landendes Flugzeug zu beschädigen, würde er so groß sein müssen wie drei Häuserblocks. Und selbst das würde kaum reichen.
Also mussten sie es auf den Menschen abgesehen haben. Auf den Präsidenten, im Moment, da er den Flieger verließ.
Das neue Terminal war möglicherweise hoch genug. Es fiel schwer, ein endgültiges Urteil auf Basis der Luftaufnahme zu fällen. Die Frage war weiterhin, wie viele Umleitungspunkte der Aufbau besaß. Es mussten mehrere Spiegel sein, und der erste war adaptiv.
Neben ihm begann Mahder nervös von einem Bein aufs andere zu treten.
»Dr. O’Connor, ich will Sie nicht drängen, aber…«
»Keine Bange, Sie drängen mich nicht. Sie sind sicher, dass Paddy ausschließlich an diesen Gebäuden gearbeitet hat?«
»Natürlich.« Es klang gereizt. Mahder schien plötzlich seinen guten Willen zu verlieren. »Ich habe ihn persönlich für sämtliche Einsätze eingeteilt. Er hätte gar nicht woanders hingekonnt ohne meine Einwilligung. Wir sind hier keine Truppe von Clowns.«
»Ich bitte um Verzeihung.«
O’Connor zog sein Handy hervor und griff in die andere Innentasche seines Jacketts. Seine Finger tasteten nach dem Zettel mit den beiden Nummern von Lavallier und griffen ins Leere.
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