»Und Sie stehen auf und gehen?«
»Allerdings.«
»Warum tun Sie es dann nicht auch jetzt?«
O’Connor starrte ihn an.
»Was ich meine«, sagte Silberman bedächtig, »ist nichts anderes als das, was Sie eben gesagt haben. Es stimmt, Clinton ist feige, politisch ambivalent und von persönlicher Verantwortungslosigkeit geprägt. Aber er ist auch ein guter Politiker. Und er ist ein Mensch. Wenn schon die Tatsache, dass jemand überhaupt in die Politik gehen will, ihn in den Augen seiner Mitmenschen zum potentiellen Lumpen macht, ist das in der Tat bedenklich. Es ist ein Spiegel unserer Zeit. Unsere Freunde in Deutschland mögen politische Karrieristen mit persönlichem Wohlwollen betrachten, aber die wenigsten halten Politiker grundsätzlich für glaubwürdig. Sie halten Kohl für einen Paten und Schröder für einen Emporkömmling. In Amerika ist es noch schlimmer. Wir leben mit der Verachtung und dem Zynismus, der unseren Präsidenten grundsätzlich entgegengebracht wird. Ein Drittel aller Amerikaner verachtet Clinton.« Er machte eine Pause. »Aber dieses Phänomen betrifft die ganze Welt. Wir reden über Anschläge an Flughäfen und vergessen, dass der weltweite moralische Verfall der politischen Kultur die schlimmeren Attentäter wie Starr und seine Hintermänner erst ermöglicht. Wir öffnen den Rechten und Radikalen Tür und Tor, weil die Demokratie schwach und angreifbar geworden ist. Hinter Starrs Inquisition steckt der Versuch, das Amt des Präsidenten selbst zu beschädigen.
Der Kreuzzug gegen Clinton, wie immer man ihn sehen mag, ist eine Offensive gegen einen Mann, der zweimal demokratisch gewählt wurde. Wäre er zurückgetreten, hätte das fatale Auswirkungen gehabt. Es wäre einem rechten Putsch gleichgekommen. Die Methode der persönlichen Vernichtung hätte triumphiert.«
Silberman blinzelte, nahm seine Brille ab und sah O’Connor an. Ohne die Verstärkung durch die geschliffenen Linsen wirkten seine Augen in dem runden, freundlichen Gesicht klein und wie poliert. Analytische Schärfe und das Fehlen jeglicher Sentimentalität sprachen aus seinem Blick.
»Verzeihen Sie, dass ich Sie in dieser Situation so sehr mit meinen persönlichen Anliegen konfrontiere«, sagte er. »Sie haben andere Sorgen. Ich auch. Alles, was ich sagen will, ist, dass ein politischer Totschlag unseres Präsidenten noch viel schlimmer gewesen wäre als die Beendigung seiner physischen Existenz. Wenn diese Gefahr besteht, müssen wir alles tun, um ihr entgegenzuwirken. Aber verstehen müssen wir vor allem die Signale. Unsere demokratischen Strukturen werden lautlos demontiert. Ausgerechnet Amerika zerstört sein eigenes System und lässt eine Horde erzkonservativer Geiferer und religiöser Rechter den American dream in einen Alptraum verwandeln. Auch in Europa warten fundamentalistische Ideologen und Populisten der Angst auf ihren großen Auftritt. Schauen Sie nach Österreich. Nach Frankreich, nach Deutschland. Was wird aus Russland, wenn Jelzin geht? Die Welt kann keine weitere Banalisierung der Politik verkraften, Liam. Die Spaßgesellschaft hat genug Spaß gehabt. Wir brauchen eine neue Integrität in der Politik, wir brauchen Wahrheit, und wir brauchen Menschen, die daran glauben!«
»Eine Wahrheit hört auf, wahr zu sein, wenn sie von mehr als einer Person geglaubt wird«, sagte O’Connor trotzig.
»Zufällig ist mir dieses Zitat bekannt. Es stammt von Oscar Wilde, nicht wahr? Nun, Liam, gestatten Sie mir Folgendes: Wenn ein armer Hund, der nichts zu beißen und keine Perspektive hat, aufsteht und geht, sobald es unangenehm wird, habe ich dafür tief empfundenes Verständnis. Wenn ein gelangweilter Multimillionär es tut, leistet er dem Zynismus Vorschub. Die Politiker lügen, die Faschisten prügeln sie aus dem Amt, und das Volk steht auf und geht. Ich gratuliere zu einer so erhebenden Vision vom dritten Jahrtausend.«
Silberman rückte die Brille vorsichtig auf seinem Nasenrücken zurecht, als könne sie Schaden nehmen.
»Ich hoffe, Sie nehmen das nicht persönlich. Wie hieß der Kommissar noch gleich? Lavallier. Nein, Bär. Ich rufe Sie an, sobald ich mit einem von beiden gesprochen habe.«
O’Connor nickte.
Tausend Zitate, Bonmots und geistvolle Erwiderungen lagen ihm auf der Zunge. Stattdessen sagte er nur:
»In Ordnung, Aaron. Und ich Sie.«
»Das wäre nett. Ich mache mir wirklich Sorgen um den armen Franz.«
Silberman lächelte und ging davon. O’Connor sah ihm nach und fühlte sich einigermaßen überrumpelt.
Dieser Ausflug nach Köln stellte tatsächlich alles auf den Kopf!
Mit eiligen Schritten betrat er die Verwaltung und lief die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo die Technik saß.
Kaum eine journalistische Berichterstattung war je von längerer Hand vorbereitet und einem strengeren Sicherheitsprocedere unterworfen worden als der Doppelgipfel in Köln.
Ein halbes Jahr zuvor hatten Verlage und freie Journalisten ihre Akkreditierungsgesuche beim Bundespresseamt einreichen müssen. Akkreditiert zu werden hieß nicht automatisch, für beide Gipfel zugelassen zu sein. Es gab einen Ausweis für den EU-Gipfel und einen anderen für das G-8-Treffen. Ebenso zog das Ersuchen nicht zwangsläufig die Akkreditierung nach sich. Die Personalien der angemeldeten Journalisten wurden vom Bundeskriminalamt gegengecheckt, Lebenslauf, Leumund, beruflicher Werdegang, Dauer der Zugehörigkeit zum Verlag beziehungsweise der freien Mitarbeit, eventuelle Rechtsverstöße und Verdachtsmomente, die ganze Litanei.
Wer als unbedenklich aus dem Fegefeuer hervorging, bekam den begehrten Akkreditierungsausweis zugesprochen. Im Pressezelt auf dem Kölner Heumarkt gelangten die Ausweise schließlich an ihre Besitzer. Drei Tage vor dem jeweiligen Gipfel konnte man sie dort gegen Vorlage eines größeren Packens Dokumente – Personalausweis, Zeugnisse, Akkreditierungsanträge, Beglaubigungen des Bundespresseamts und des BKA – in Empfang nehmen. Als Erstes erwarb man damit die nachträgliche Berechtigung, das Zelt überhaupt betreten zu dürfen. Weiter kam man mit dem mühsam erworbenen Kärtchen nicht. Um etwa auf die Pressetribüne am Flughafen oder vor den Gürzenich zu gelangen, bedurfte es neben dem Akkreditierungsausweis wiederum so genannter Poolkarten. Für jeden nur erdenklichen Anlass gab es diese Karten. Wer sich erfolgreich hatte akkreditieren lassen, beantragte die Poolkarten seiner Wahl zwei Monate vor dem Gipfel und holte sie am Tag des jeweiligen Events im Pressezelt ab, sofern er im Besitz eines gültigen Akkreditierungsausweises war. So schloss sich der Kreis.
Jana stand vor dem Exit »Flughafen« und wartete geduldig auf den Shuttle-Bus. Für jeden Pool gab es im Zelt einen eigenen Ausgang. Gut eine Stunde vor dem fraglichen Termin passierte man seinen Pool-Exit, flankiert von Mitarbeitern des Bundespresseamts, bestieg seinen Bus und ließ sich ans Ziel kutschieren.
Es hatte einige Mühe bereitet, Jana zugleich in den Besitz einer ordnungsgemäßen Akkreditierung zu bringen. Mirko hatte sich darum gekümmert, und er hatte seine Sache mehr als gut gemacht. Nun war sie Cordula Malik, ausgestattet mit einer wasserdichten Legende und offiziell vermerkt als freie Journalistin aus Wien, seit heute offiziell eingebucht im Hotel Flandrischer Hof auf dem Hohenzollernring. Sie besaß einen Akkreditierungsausweis und seit wenigen Minuten eine Poolkarte für die Pressetribüne auf dem Vorfeld Fracht West des Köln-Bonn Airport.
Sie sah sich um. Das zweistöckige Pressezelt war stark frequentiert. Zweifellos hatten die Organisatoren des Gipfels hiermit ihr Meisterstück abgeliefert. Halb scherzhaft, halb ehrfürchtig wurde das provisorische Headquarter des internationalen Journalismus nun »Gipfel-Ufo« genannt. Hatte man die Sicherheitsschleuse passiert, Handy und Schlüssel dem Röntgenlaufband anvertraut und sich vom Metalldetektor absuchen lassen, während Scanner über Taschen und Geräte huschten, fand man sich in einem drei Millionen teuren High-Tech-Universum wieder, das der Kommandobrücke einer überdimensionierten Enterprise glich. Im Mittelpunkt des Ufos befand sich eine kreisrunde Faxzentrale. Von dort zweigten sternförmig endlos scheinende Reihen hochmoderner Arbeitsplätze ab, ausgestattet mit Laptop-Anschluß und PC, analogen und ISDN- Telefonen, E-Mail und Internet. Über die TV-Bildschirme einer zelteigenen Fernsehstation flimmerten fortlaufend Nachrichten und Pressekonferenzen, in den Pausen lief VIVA zur Entspannung.
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