Dann blickte sie die Worte lange an.
Rhys kam mit vierundzwanzigstündiger Verspätung zu seinem Rendezvous mit einer reizenden französischen Schauspielerin, doch das machte ihm nichts aus. Zum Schluss landeten sie im Maxim’s, und Rhys konnte sich des Gedankens nicht erwehren: Der Abend mit Elizabeth war amüsanter gewesen.
Das war ein Geschöpf, mit dem man zu rechnen hatte. Über kurz oder lang.
Später war sich Elizabeth nie sicher, wen sie für die Verwandlung verantwortlich machen sollte, die in ihr vorging: Samuel oder Rhys Williams. Jedenfalls sah sie sich jetzt mit anderen Augen und entdeckte, vor allem, ihren Stolz. Sie hörte auf, in sich hineinzufuttern, und wurde wieder schlank. Auf einmal machte ihr sportliche Betätigung Spaß, und sie fing an, sich für die Dinge in der Schule zu interessieren. Schließlich gab sie sich sogar Mühe, mit den anderen Mädchen in Kontakt zu kommen. Die wollten ihren Augen nicht trauen. Wie oft hatten sie Elizabeth zu ihren Pyjama-Partys eingeladen und sich immer einen Korb geholt. Doch zu ihrer aller Überraschung tauchte sie plötzlich bei einer dieser Feten auf.
Schauplatz war ein Vierbettzimmer, und als Elizabeth hereinschneite, drängelten sich mindestens zwei Dutzend Schülerinnen in dem Raum, alle in Pyjamas oder Nachthemden. Eine sah überrascht auf und rief: »Seht mal, wer da kommt! Dabei haben wir gewettet, du würdest dich nicht blicken lassen.«
»Na schön, aber nun bin ich da.«
Die Luft war zum Schneiden. Süßer, durchdringender Zigarettenqualm schlug Elizabeth entgegen. Sie wusste, viele Mädchen rauchten Marihuana, doch sie selbst hatte es nie versucht. Die Gastgeberin, eine junge Französin namens Renee Tocar, kam mit einem bräunlichen Glimmstengel auf sie zu. Nach einem tiefen Zug reichte sie ihn an Elizabeth weiter. »Möchtest du?«
»Klar«, log Elizabeth. Sie nahm den Stummel, zögerte nur einen winzigen Moment, steckte ihn zwischen die Lippen und inhalierte tief. Sofort lief ihr Gesicht grün an, sie spürte es förmlich, und die Lungen rebellierten. Aber sie brachte ein Grinsen zuwege. »Klasse.«
Sobald Renee ihr den Rücken kehrte, ließ Elizabeth sich auf ein Sofa sinken. In ihrem Kopf drehte sich alles, aber das ging im Nu vorbei. Sie zog noch einmal an der Kippe, nur so zur Probe. Alsbald wurde ihr ganz leicht. Die Wirkung von Marihuana war ihr bekannt, vom Lesen und Hörensagen. Der Stoff, hieß es, nahm einem die Hemmungen, ließ einen aus sich herausgehen. Noch einmal zog sie, diesmal tiefer, und ein herrliches Schwebegefühl stellte sich ein, als näherte sie sich einem neuen Planeten. Zwar nahm sie die anderen Mädchen noch wahr, hörte sie auch reden, aber alles wirkte verschwommen, die Geräusche gedämpft und wie von weit her. Dafür schien das Licht außerordentlich grell, und sie schloss die Augen. Im selben Moment fühlte sie sich davongetragen, weg in den freien Raum. Ein wunderbares Gefühl. Sie schwebte über das Dach, höher, immer höher, zu den schneebedeckten Bergen und dann in ein Meer weißer Wolken. Irgend jemand rief ihren Namen, holte sie jäh zur Erde zurück. Widerwillig schlug Elizabeth die Augen auf. Renee beugte sich besorgt über sie.
»Was nicht in Ordnung, Liz?«
Elizabeth lächelte. Ein genüssliches, seliges Lächeln. Ihre Worte kamen stockend. »Doch, doch, ich fühle mich großartig.« Und in ihrer ungewohnten Euphorie entschlüpfte ihr das Eingeständnis: »Weißt du, ich hab’ noch nie Marihuana geraucht.«
Renee starrte sie ungläubig an. »Marihuana? Das war eine Gauloise.«
Am anderen Ende von Neuchatel lag ein Jungeninternat. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit schlichen Elizabeths Schulkameradinnen sich zu Stelldicheins davon. Die Jungen waren ein Dauergesprächsthema der Mädchen. Sie tuschelten über ihre Körper und deren Beschaffenheit, auch über intime Dinge, was sich mit ihnen alles anstellen ließ. Manchmal schien es Elizabeth, als sei sie in eine Meute hemmungsloser Nymphomaninnen geraten. Sex war das einzige Thema. Eins ihrer geheimen Lieblingsspiele nannte sich frolage. Ein Mädchen musste sich nackt ausziehen und aufs Bett legen, auf den Rücken, während eine Freundin sie langsam von den Brüsten bis zu den Schenkeln streichelte. Der Lohn für diesen Liebesdienst bestand aus einem Kuchen aus der nahe gelegenen Konditorei. Zehn Minuten frolage entsprachen einem Stück Gebäck. Innerhalb dieser Zeit erreichte die Betreffende in den meisten Fällen einen Orgasmus, wenn nicht, musste die Gefährtin weitermachen und bekam dafür den doppelten Lohn.
Ein anderer Favorit der schulischen Sexspiele konnte im Bad genossen werden. Die Schule war mit großen altmodischen Badewannen ausgestattet, und die Handduschen befanden sich an einem längeren Schlauch. Die Mädchen setzten sich in die Wanne, drehten die Dusche auf, und sobald das warme Wasser sprudelte, schoben sie sich die Dusche zwischen die Beine und befriedigten sich.
Zwar beteiligte sich Elizabeth weder beim frolage noch an den Wasserspielen, doch spürte sie, wie ihr sexuelles Verlangen sich regte. Um diese Zeit etwa machte sie eine bestürzende Entdeckung.
Eine ihrer Lehrerinnen war Chantal Harriot, eine kleine schlanke Frau Ende Zwanzig, selbst fast noch ein Schulmädchen. Ihr Gesicht war hübsch, wirkte beim Lächeln sogar schön. Elizabeth fand in ihr ein mitfühlendes Wesen, empfindsamer als alle anderen im Internat, und entwickelte eine starke Zuneigung zu ihr. Immer wenn sie sich unglücklich fühlte, ging Elizabeth zu Mlle. Harriot und sprach sich aus. Mlle. Harriot war eine verständnisvolle Zuhörerin. Bei solch einem Anlass pflegte sie Elizabeths Hand zu nehmen und sie sanft zu streicheln. Stets hatte sie guten Zuspruch parat sowie eine Tasse heiße Schokolade nebst Plätzchen, und Elizabeth fühlte sich alsbald getröstet.
Mlle. Harriot unterrichtete Französisch und außerdem das Fach Mode. Dabei legte sie vor allem Wert auf Stil, Harmonie der Farben und Accessoires: die Requisiten, wie sie sich ausdrückte.
»Eins dürft ihr nie vergessen, Mädels«, pflegte sie zu sagen. »Die erlesensten Kleider der Welt sehen nach nichts aus, wenn man die dazu passenden Requisiten vergisst.«
Immer wenn Elizabeth in ihrer warmen Badewanne lag, überraschte sie sich dabei, wie ihre Gedanken um Mlle. Harriot kreisten. Vor sich sah sie ihr Gesicht, wenn sie miteinander sprachen, spürte sie ihre warme, zärtliche Hand.
Auch in den anderen Stunden musste sie stets an Mlle. Harriot denken. Immer wieder erlebte sie nach, wie die Lehrerin ihre Arme um sie gelegt hatte, spürte ihre Tröstung, die leichte Berührung an den Brüsten. Und wie ein gewaltiger Schock kam Elizabeth die Erkenntnis.
Sie war lesbisch.
Jungen interessierten sie deshalb nicht, weil sie sich zu Mädchen hingezogen fühlte. Nicht zu den kleinen dummen Gänsen, ihren Klassenkameradinnen, nein, sie sehnte sich nach einem mitfühlenden, verständnisvollen Wesen, wie Mlle. Harriot es war.
Über Lesbierinnen hatte Elizabeth genug gelesen und gehört, um zu wissen, wie schwierig das Leben sich für sie gestaltete, ausgestoßen von der Gesellschaft. Aber, fragte sich Elizabeth: Was konnte falsch daran sein, wenn man sich tief und innig liebte? Mann oder Frau, spielte das dann noch eine Rolle? Kam es nicht einzig und allein auf das Gefühl an?
Elizabeth musste an ihren Vater denken, an sein Entsetzen, wenn er die Wahrheit über die Veranlagung seiner Tochter erfuhr. Na schön, dem musste sie eben ins Auge sehen. Und es galt, die ganze Zukunft neu zu ordnen. Vor ihr lag nicht das sogenannte normale Leben der anderen jungen Mädchen, mit Ehemann und Kindern. Wohin sie sich auch wandte, sie war eine Andersgeartete, eine Rebellin, die die Zwänge der Gesellschaft abgestreift hatte. Und wenn schon! Elizabeth stellte sich in Gedanken ihr gemeinsames Heim in zarten Pastellfarben und mit passenden Requisiten vor. Sie sah erlesene französische Möbel und schöne Gemälde.
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