»Wieso - ich - ich verstehe nicht«, stammelte sein Vater. »Wir dachten, du -«
Schnell berichtete Samuel, was geschehen war, und ihre Sorgen wichen blanker Angst.
»Oh, du mein Gott!« stöhnte sein Vater. »Jetzt bringen sie uns alle um!«
»Nicht, wenn ihr auf mich hört«, sagte Samuel. Er erklärte seinen Plan.
Eine Viertelstunde später standen Samuel, sein Vater und zwei Nachbarn vor dem Tor.
»Und wenn nun der andere Posten wiederkommt?« flüsterte sein Vater.
»Das Risiko müssen wir eingehen. Wenn er auftaucht, nehme ich die ganze Schuld auf mich.«
Samuel stieß das riesige Tor auf. Allein schlüpfte er hinaus, in der Erwartung, jeden Moment aus dem Dunkel gepackt zu werden. Aber nichts geschah. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Nun war das Ghetto-Tor von außen verriegelt. Samuel band sich den Schlüssel um die Taille und ging ein paar Schritte um die Mauer nach links. Einen Moment später wurde ein Seil für ihn herabgelassen. Samuel klammerte sich fest, und sein Vater und die anderen zogen ihn herüber.
»Oh, mein Gott«, murmelte sein Vater. »Was wird geschehen bei Sonnenaufgang?«
Samuel sah ihn an. »Bei Sonnenaufgang stehen wir alle hier drinnen vor dem Tor, trommeln und schreien, sie sollen uns endlich aufmachen.«
In der Morgendämmerung wimmelte das Ghetto von Uniformierten, Polizisten wie Soldaten. Bei Sonnenaufgang, als die Krämer und Händler drinnen zu toben anfingen, hatte die Obrigkeit mühsam erst einen Ersatzschlüssel auftreiben müssen. Paul, der zweite Posten, hatte gestanden, die ganze Nacht in Krakau verbracht zu haben, und war in Arrest genommen worden. Aber damit war das Rätsel um Aram nicht gelöst. Verschwand ein Wachtposten in unmittelbarer Nähe des Ghettos, so gab das schon Vorwand genug, um ein Pogrom zu entfachen und blutige Rache an den Juden zu nehmen. Diesmal aber kam die Obrigkeit an der Tatsache des verschlossenen Tores nicht vorbei. Da es sicher und fest von außen verriegelt war und die Juden sich drinnen befanden, konnten sie offensichtlich mit dem Verschwinden des Postens nichts zu tun haben.
Schließlich kam man zu dem Schluss, Aram müsste mit einer seiner vielen Freundinnen durchgebrannt sein. Wahrscheinlich hatte er, vermutete man, den hinderlichen Schlüssel einfach weggeworfen. Man suchte überall danach, aber vergebens. Das konnte auch gar nicht anders sein; denn in Wahrheit lag der Schlüssel tief in der Erde vergraben unter dem Keller von Samuels Haus.
Körperlich und seelisch total erschöpft, war Samuel in sein Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Plötzlich spürte er, wie jemand ihn wachrüttelte, und hörte eine gellende Stimme. Sein erster Gedanke war: Sie haben Arams Leiche gefunden. Jetzt holen sie mich.
Auf alles gefasst, schlug er die Augen auf. Neben seinem Bett stand Isaac, ganz aus dem Häuschen. »Das Fieber ist gefallen!« schrie er immer wieder. »Der Husten ist weg! Ein Wunder ist geschehen, komm mit, sieh selbst!«
Isaacs Vater saß aufrecht im Bett, Husten und Fieber waren verschwunden.
Als Samuel an das Bett trat, sagte der alte Mann: »Ich habe Hunger. Bringt mir denn niemand eine Tasse Hühnersuppe?« Samuel brach in Schluchzen aus.
Innerhalb eines Tages hatte er ein Leben vernichtet und eines gerettet.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von der Genesung im Ghetto. Die Familien sterbender Kranker versetzten das Roffesche Haus in regelrechten Belagerungszustand, flehten Samuel an, er möge einen Tropfen seines magischen Serums spenden. Es war ihm unmöglich, der Vielzahl der Anforderungen nachzukommen. Er ging zu Dr. Wal. Der Arzt hatte von seiner Tat gehört, zeigte sich aber skeptisch.
»Ich muss das mit eigenen Augen sehen«, meinte er.
»Gib mir ein Quantum von deinem Serum, und ich probier’ es an einem meiner Patienten aus.«
Die Anzahl der Anwärter war nur allzu groß, und Dr. Wal wählte einen Kranken, der seiner Ansicht nach dem Tod am nächsten stand. Vierundzwanzig Stunden später befand sich der Patient auf dem Wege der Besserung.
Dr. Wal begab sich in den Stall, wo Samuel Tag und Nacht mit der Herstellung von Serum beschäftigt gewesen war. »Es wirkt, Samuel. Du hast es vollbracht. Was wünschst du dir als Aussteuer?«
Samuel konnte vor Müdigkeit kaum die Augen offenhalten. Seine Antwort lautete: »Noch ein Pferd.«
Das war 1868: das Geburtsjahr von Roffe und Söhne.
Samuel und Terenia heirateten. Die Mitgift bestand aus sechs Pferden und einem kleinen, exzellent eingerichteten Laboratorium. Sofort dehnte Samuel seine Experimente aus. Er destillierte Heilmittel aus Kräutern. Bald kamen die Nachbarn und kauften Arzneien gegen alle Gebrechen, von denen sie gerade heimgesucht wurden. Die Mittel wirkten, und Samuels Ruhm nahm zu. Wenn jemand nicht zahlen konnte, pflegte er zu sagen: »Macht nichts, nehmen Sie’s halt so mit.« Und zu Terenia: »Medizin ist zum Heilen da, nicht zum Geldverdienen.«
Aber sein Geschäft wuchs und wuchs, und nach kurzer Zeit konnte er Terenia eröffnen: »Meiner Meinung nach ist es an der Zeit, eine kleine Apotheke aufzumachen. Da können wir neben der Medizin Salben und Pülverchen verkaufen.«
Von Anfang an war der Laden ein Erfolg. Die Reichen, die Samuel früher ihre Hilfe verweigert hatten, kamen nun mit großzügigen Geldangeboten.
»Lass uns Partner sein«, sagten sie. »Wir bauen eine Kette von Geschäften auf.«
Samuel besprach die Offerten mit Terenia. »Ich habe Angst vor Partnern. Das ist unser Geschäft. Kein Fremder soll einen Teil unseres Lebens besitzen.«
Terenia stimmte zu.
Als das Geschäft immer weiter wuchs und neue Läden aus dem Boden schossen, vergrößerten sich auch die Geldangebote. Samuel wies alle Bewerber ab.
Sein Schwiegervater fragte nach dem Grund, und Samuel antwortete: »Lass nie einen freundlichen Fuchs in deinen Hühnerstall. Eines Tages bekommt er doch Hunger.«
Ebenso wie das Geschäft gedieh Samuels und Terenias Ehe. Sie gebar ihm fünf Söhne: Abraham, Joseph, Anton, Jan und Pitor. Und mit der Geburt eines jeden Sohnes eröffnete Samuel eine neue Apotheke, eine größer als die andere. Zuerst hatte Samuel einen Gehilfen eingestellt, dann den zweiten, und bald beschäftigte er mehr als zwei Dutzend Angestellte.
Eines Tages bekam er Besuch von einem Regierungsbeamten. »Wir heben einige Restriktionen für Juden auf«, erklärte er ihm. »Unser Wunsch ist, dass Sie eine Apotheke in Krakau eröffnen.«
Samuel kam der Aufforderung nach. Drei Jahre später konnte er in der Innenstadt von Krakau sein eigenes Geschäftshaus bauen und für Terenia ein elegantes Stadthaus. Endlich hatte Samuel seinen Traum wahr gemacht. Er war dem Ghetto entkommen.
Doch hegte er Träume, die weit über Krakau hinausreichten.
Als die Knaben älter wurden, engagierte er ihnen Hauslehrer, und jeder Sohn lernte eine andere Fremdsprache.
»Jetzt ist er komplett verrückt!« keifte seine Schwiegermutter. »Das Gespött aller Nachbarn! Da lässt er Abraham und Jan Englisch lernen, Joseph Deutsch, Anton Französisch und Pitor Italienisch. Keiner hier spricht auch nur eine dieser barbarischen Sprachen. Die Jungen werden nicht einmal miteinander reden können!«
Aber Samuel lächelte nur. »Das ist Teil ihrer Ausbildung.« Er wusste sehr wohl, mit wem seine Söhne sprechen würden.
Bis zur Mitte ihres zweiten Lebensjahrzehnts hatten alle Jungen mit ihrem Vater die verschiedensten Länder besucht. Auf jeder Reise legte Samuel den Grundstock für seine Zukunftspläne. Als Abraham einundzwanzig war, rief Samuel die Familie zusammen und verkündete: »Abraham wird nach Amerika auswandern.«
»Amerika!« schrie Terenias Mutter. »Da laufen doch lauter Wilde herum. Das lass’ ich mit meinem Enkel nicht machen. Der Junge bleibt hier, wo er sicher ist.«
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