»Guten Morgen, Samuel.«
»Guten Morgen, Isaac. Ich weiß ja nicht, wohin du mit dem armen Gaul da willst, aber du solltest dich beeilen. Der sieht nicht so aus, als ob er es noch lange macht.«
»Braucht er auch nicht. Das ist Lottie, und ich bringe sie in die Abdeckerei.«
Samuel beäugte die alte Pferdedame mit plötzlich erwachtem Interesse. »Na, glaub ja nicht, dass die dir viel für sie geben.«
»Weiß ich selbst. Will ja nur zwei Gulden, um einen Karren zu kaufen.«
Samuels Herz fing schneller zu schlagen an. »Schätze, ich kann dir den Weg ersparen. Ich gebe dir meinen Karren für dein Pferd.«
Die beiden brauchten nicht einmal fünf Minuten, um handelseinig zu werden.
Nun musste Samuel nur noch einen neuen Karren zimmern und seinem Vater eine Geschichte auftischen, wie er den alten losgeworden und an ein Pferd gekommen war, das lahmte und fast blind war.
Samuel führte Lottie in die Scheune. Bei näherer Untersuchung sah die alte Mähre noch desolater aus als ihr Vorgänger. Samuel klopfte dem Tier den Rücken. »Nur keine Angst, Lottie. Du wirst in die Geschichte der Medizin eingehen.«
Und ein paar Minuten später hatte Samuel bereits ein neues Serum in Arbeit.
Die aufs äußerste beengten und völlig unhygienischen Verhältnisse im Ghetto führten immer wieder zu Epidemien. Die neueste Heimsuchung war ein Fieber besonderer Art. Es brachte quälenden Husten, geschwollene Drüsen und einen elenden Tod. Die Seuche verbreitete sich schnell, und die Ärzte kannten weder den Erreger noch einen Wirkstoff dagegen. Isaacs Vater wurde von der Krankheit befallen. Als Samuel davon hörte, eilte er zu ihm.
»Der Doktor ist dagewesen«, berichtete Isaac weinend. »Er sagt, man kann nichts mehr tun.«
Von oben hörte Samuel ein furchtbares Krächzen.
»Du musst was für mich tun«, bat Samuel. »Hol mir ein Taschentuch von deinem Vater.«
Isaac starrte ihn an. »Ein Taschentuch?«
»Ja, und zwar ein gebrauchtes. Und geh vorsichtig damit um. Es wird voller Bakterien stecken.«
Eine Stunde später war Samuel wieder im Stall. Vorsichtig kratzte er das Sputum in eine kleine Schüssel voll Brühe.
Er arbeitete die ganze Nacht, den nächsten und den darauffolgenden Tag, injizierte der geduldigen Lottie zunächst kleine Dosen der Substanz, dann größere. Er kämpfte gegen die Zeit und um das Leben von Isaacs Vater.
Gleichzeitig kämpfte Samuel um sein eigenes Leben.
Er wurde sich auch später nie darüber klar, ob der liebe Gott das alte Pferd oder ihn hatte retten wollen. Auf jeden Fall überlebte Lottie die Injektionen, und schließlich hatte Samuel sein erstes Quantum Antitoxin. Seine nächste Aufgabe bestand darin, Isaacs Vater zur Anwendung zu überreden. Doch wie sich herausstellte, bedurfte es dazu keiner großen Anstrengung. Als Samuel in Isaacs Haus kam, fand er dort die ganze Verwandtschaft, die den Sterbenden beweinte.
»Es geht bald zu Ende«, berichtete ihm Isaac.
»Kann ich ihn sehen?«
Die beiden Jungen gingen nach oben. Isaacs Vater lag im Bett, das Gesicht vom Fieber gerötet. Jeder seiner heftigen Hustenanfälle schüttelte mehr Substanz aus dem ausgemergelten Körper. Er lag ganz offensichtlich im Sterben.
Samuel holte tief Luft. »Ich möchte mit dir und deiner Mutter etwas bereden.«
Keiner der beiden setzte auch nur die geringste Zuversicht in die kleine Glasröhre, die Samuel mitgebracht hatte, aber die Alternative lautete: Tod. Und weil es ohnehin nichts zu verlieren gab, gingen sie das Risiko ein.
Samuel injizierte Isaacs Vater das Serum. Drei Stunden harrte er neben dem Bett aus, aber der Zustand blieb unverändert. Das Serum zeigte keine Wirkung. Im Gegenteil, die Hustenanfälle wurden eher schlimmer und kamen in schnellerer Folge. Schließlich ging Samuel und versuchte, Isaacs Blick zu meiden.
Am nächsten Morgen, in der Dämmerung, musste Samuel nach Krakau, um Waren einzukaufen. Er selbst fühlte sich wie im Fieber, so ungeduldig war er, wieder zurückzukehren und zu erkunden, ob Isaacs Vater noch lebte.
Die Märkte waren überfüllt, und es erschien Samuel wie eine Ewigkeit, bis er seine Waren zusammenhatte. Als der Karren schließlich beladen war und er sich auf den Weg ins Ghetto machte, stand die Nachmittagssonne schon tief am Himmel.
Samuel war noch gut drei Kilometer vom Tor entfernt, da schlug das Schicksal zu. Ohne Vorankündigung zerbrach eines der Wagenräder, das Gefährt kippte um, und die Ladung ergoss sich auf die Straße. Samuel sah sich in einem bösen Dilemma: Er musste ein anderes Rad auftreiben, wagte aber nicht, den Wagen unbewacht zurückzulassen. Schon sammelte sich eine Menschenmenge an; begehrliche Blicke galten den Gegenständen auf dem Pflaster. Samuel sah einen uniformierten Polizisten näher kommen, und er wusste sich verloren. Jetzt würden sie ihm alles wegnehmen, der Polizist war kein Jude. Majestätisch schob sich der Ordnungshüter durch die Menge. Er baute sich vor dem verängstigten Jungen auf. »Dein Karren braucht ein neues Rad, wie ich sehe.«
»Ja-jawohl, mein Herr.«
»Weißt du, wo du eins bekommst?«
»Nein, mein Herr.«
Der Polizist kritzelte etwas auf ein Stück Papier. »Da geh hin. Sag dem Mann, was du brauchst.«
»Ich kann den Wagen doch nicht allein lassen«, wandte Samuel ein.
»Doch, das kannst du.« Der Polizist warf den Umstehenden einen strengen Blick zu. »Ich werde ihn bewachen, keine Sorge. Beeil dich aber.«
Samuel rannte den ganzen Weg. Den Anweisungen auf dem Zettel folgend, landete er schließlich bei einem Schmied. Nachdem Samuel ihm seine Lage geschildert hatte, suchte der Mann ein Rad in passender Größe heraus. Samuel zahlte aus der kleinen Barschaft, die er bei sich trug. Es blieb nur noch ein halbes Dutzend Gulden übrig.
Das Rad vor sich her rollend, rannte er zum Karren zurück. Dort stand immer noch der Polizist; die Menge hatte sich verlaufen. Mit Hilfe des Ordnungshüters montierte er das neue Rad an. Sie brauchten eine halbe Stunde dazu. Dann endlich konnte sich Samuel auf den unterbrochenen Heimweg machen. Seine Gedanken waren einzig und allein bei Isaacs Vater. Würde er ihn tot vorfinden, oder lebte er noch? Samuel meinte, die Spannung nicht einen Augenblick länger ertragen zu können.
Inzwischen war er nur noch gut anderthalb Kilometer vom Ghetto entfernt. Schon sah er die hohe Mauer sich gegen den Himmel abzeichnen. Und als er sie noch anblickte, ging die Sonne am westlichen Horizont unter; die ihm fremden Straßen wurden in Dunkelheit gehüllt. In der ganzen Aufregung hatte Samuel völlig die Zeit vergessen. Es war nach Sonnenuntergang, und er befand sich noch draußen auf den Straßen! Er fing zu rennen an, stieß den schweren Karren vor sich her. Schließlich schien ihm das Herz zu zerspringen, und das nicht allein vor Anstrengung. Bestimmt waren die Tore des Ghettos bereits geschlossen. Nur zu gut kannte Samuel all die schlimmen Geschichten über jene Juden, die abends ausgesperrt waren. Er rannte noch schneller. Wahrscheinlich war jetzt, wie meistens, nur noch ein Wächter am Tor. Handelte es sich um Paul, den netteren, hatte Samuel eine hauchdünne Chance. Stand dort aber Aram - Samuel wagte gar nicht, sich auszudenken, was dann geschah. Die Dunkelheit wurde immer dichter, umfing ihn wie ein schwarzes Tuch, und es begann leicht zu regnen. Samuel näherte sich den Ghettomauern, noch zwei Straßenecken, dann ragte das riesige Tor vor ihm auf. Es war verschlossen.
Noch nie hatte Samuel das geschlossene Tor von außen gesehen. Es war, als hätte sich sein Leben plötzlich umgestülpt, und die Angst ließ ihn zittern. Er bewegte sich jetzt ganz langsam vorwärts, näherte sich dem Tor mit äußerster Vorsicht. Dabei hielt er Ausschau nach den Wächtern. Sie waren nicht zu sehen. Vielleicht war aus irgendeinem Grund Alarm gegeben worden, und die beiden hatten fortgemusst. Dann würde er einen Weg finden, das Tor zu öffnen oder ungesehen über die Mauer zu klettern. Als er bis auf wenige Meter heran war, trat ein Wächter aus dem Schatten.
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