Sicher. Samuel dachte an die Pogrome, an das blutige Ende seiner Mutter.
»Er wandert aus«, erklärte er. Und er wandte sich an Abraham: »Du wirst in New York eine Fabrik eröffnen und für das dortige Geschäft verantwortlich sein.«
»Jawohl, Vater«, erwiderte Abraham stolz.
Samuel wandte sich Joseph zu. »An deinem einundzwanzigsten Geburtstag gehst du nach Berlin.« Joseph nickte.
Anton fiel ein: »Und ich? Mich schickst du doch hoffentlich nach Frankreich, nach Paris.«
»Pass bloß auf«, brummte Samuel. »Manche von den Gojims sind sehr schön.«
Er wandte sich zu Jan: »Du gehst nach England.«
Der Jüngste, Pitor, rief aufgeregt: »Und ich reise nach Italien, Papa. Wann kann ich losfahren?«
Samuel lachte. »Heute abend nicht mehr, Pitor. Du musst schon warten, bis du einundzwanzig bist.«
Und genauso kam es. Samuel begleitete seine Söhne ins Ausland und half ihnen, Geschäfte und Fabriken einzurichten. Im Laufe der folgenden sieben Jahre kam die Familie Roffe zu Niederlassungen in fünf fremden Ländern. Aus dem Geschäft war inzwischen eine Dynastie geworden, und Samuel ließ seinen Rechtsanwalt das vertraglich absichern. Jedes Unternehmen sollte selbständig arbeiten, zugleich aber dem Mutterhaus verantwortlich sein.
»Vor allem keine Fremden«, warnte Samuel immer wieder. »Alle Anteile müssen im Familienbesitz bleiben.«
»Werden sie auch«, beruhigte ihn der Anwalt. »Aber wenn deine Söhne ihre Anteile nicht veräußern können, Samuel, sag mir, wie sollen sie dann ihr Auskommen finden? Du willst sie doch sicher bequem leben lassen.«
Samuel nickte. »Wir werden es so einrichten, dass sie schöne Häuser haben. Und ein großzügiges Gehalt und ein Konto für notwendige Ausgaben. Aber darüber hinaus muss alles wieder ins Geschäft fließen. Wenn sie jemals Anteile verkaufen wollen, muss das einstimmig beschlossen werden. Die Mehrheit der Anteile geht später auf meinen ältesten Sohn und dessen Erben über. Wir werden groß sein. Größer als die Rothschilds.«
Über die Jahre hinweg wurde Samuels Prophezeiung in die Tat umgesetzt. Das Geschäft wuchs und gedieh. Obwohl die Familie jetzt über die halbe Welt verstreut war, achteten Samuel und Terenia darauf, dass der Zusammenhalt gewahrt blieb. Zu Geburts- und hohen Festtagen kehrten die Söhne heim. Doch ihre Besuche waren mehr als ein Familienwiedersehen. Die Jungen zogen sich mit ihrem Vater zurück und erörterten das Geschäftliche. Sie hatten ihr eigenes privates Spionagenetz. Jedesmal, wenn ein Sohn in einem Land von einer pharmazeutischen Neuentwicklung hörte, gab er die Nachricht an die Brüder weiter, und sogleich fingen alle an, den neuen Wirkstoff selbst zu produzieren. So waren sie der Konkurrenz immer einen Schritt voraus.
Das Rad des Jahrhunderts drehte sich. Die Söhne heirateten, hatten Kinder, und Samuel kam zu Enkelkindern. Abraham war an seinem einundzwanzigsten Geburtstag, im Jahr 1891, wie geplant, nach Amerika übersiedelt. Sieben Jahre später heiratete er ein amerikanisches Mädchen, das im Jahr 1905 Samuels erstem Enkelkind, Woodrow, das Leben schenkte, der seinerseits einen Sohn zeugte und ihn Sam nannte. Joseph hatte eine Deutsche geheiratet, die einen Sohn und eine Tochter bekam. Der Sohn heiratete ein Mädchen, das wiederum von einer Tochter entbunden wurde: Anna. Diese Anna heiratete einen Deutschen, Walther Gassner. In Frankreich hatte Anton eine Französin geehelicht, mit der er zwei Söhne hatte. Einer beging Selbstmord, der andere heiratete und wurde Vater einer Tochter, Helene, die ihrerseits mehrmals heiratete, aber kinderlos blieb. Jan hatte in London eine Engländerin zur Frau genommen, und ihrer beider einzige Tochter war von einem Baronet zur Gattin erkoren worden, der Nichols hieß. Die beiden wiederum bekamen einen Sohn, den sie Alec tauften. Pitor, in Italien, heiratete ebenfalls eine Einheimische. Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Als zu gegebener Zeit der Sohn eine Frau nahm, gebar diese ihm eine Tochter, Simonetta, die sich im angemessenen Alter in einen jungen Architekten, Ivo Palazzi, verliebte und ihn heiratete.
Dies also waren die Nachkommen von Samuel und Terenia Roffe.
Samuel erlebte noch die großen Neuerungen, durch die sich die Welt veränderte. Marconi erfand die drahtlose Telegrafie, und die Gebrüder Wright brachten in Kitty Hawk das erste Flugzeug in die Lüfte. Die Affäre Dreyfus eroberte die Schlagzeilen, und Admiral Peary erreichte den Nordpol. Das Automodell T von Ford ging in die Massenproduktion; es gab elektrisches Licht und das Telefon. In der Medizin wurden die Erreger von Tuberkulose, Typhus und Malaria gefunden und isoliert.
Und nicht einmal ein halbes Jahrhundert nach seiner Gründung war Roffe und Söhne ein multinationaler Mammutkonzern, eine weltumspannende Dynastie.
Samuel und seine klapprige Pferdedame Lottie hatten ein Imperium aus der Taufe gehoben.
Nachdem Elizabeth das Buch wohl zum fünftenmal gelesen hatte, stellte sie es heimlich an seinen Platz in der Glasvitrine zurück. Sie brauchte es nicht länger. Sie war jetzt ein Teil von ihm, genauso wie das Buch ein Teil von ihr war.
Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste Elizabeth, wer sie war und woher sie kam.
An ihrem fünfzehnten Geburtstag, im zweiten Halbjahr des ersten Jahres im Internat, hatte Elizabeth die erste Begegnung mit Rhys Williams. Er kam vorbei, um ihr ein Geburtstagsgeschenk ihres Vaters zu überbringen.
»Er wollte selbst kommen«, erklärte Rhys, »aber er konnte sich nicht freimachen.« Elizabeth verbarg ihre Enttäuschung, aber Rhys spürte sofort, was in ihr vorging. Das junge Mädchen vor ihm strahlte Verlorenheit aus, war der Härte des Lebens ungeschützt ausgesetzt wie ein kleiner nackter Vogel. Das rührte ihn ganz seltsam an. »Warum gehen wir zwei nicht zusammen essen?« fragte er impulsiv.
Schrecklicher Gedanke, fuhr es Elizabeth durch den Kopf. Sie sah es richtig vor sich, wie sie gemeinsam ein Restaurant betraten: er mit seinem blendenden Aussehen, weltmännisch gewandt, und sie, ein dickes Pummelchen mit Zahnspangen. »Vielen Dank, aber lieber nicht«, erwiderte sie förmlich. »Ich - ich muss dringend Schularbeiten machen.«
Doch Rhys Williams weigerte sich, ein Nein als Antwort zu akzeptieren. Er dachte an die lange Reihe eigener einsamer Geburtstage. Von der Schulleiterin holte er sich die Erlaubnis ein, Elizabeth zum Essen auszuführen. Sie stiegen in Rhys’ Auto und fuhren los, Richtung Flughafen.
»Neuchatel liegt dort.« Elizabeth wies nach hinten.
Rhys sah sie unschuldig an. »Wer spricht denn von Neuchatel?«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Ins Maxim’s, natürlich. Nur da kann man einen fünfzehnten Geburtstag gebührend feiern.«
Mit dem Privatjet flogen sie nach Paris. Das Abendessen war exquisit. Pate de foie gras mit Trüffeln, Hummercocktail, Ente a' l’orange, dazu Maxim’s Spezialsalat, darauf schließlich Champagner und eine tolle Geburtstagstorte. Hinterher fuhr Rhys mit Elizabeth die Champs-Elysees entlang. Spätabends flogen sie in die Schweiz zurück.
Elizabeth hatte den herrlichsten Abend ihres Lebens verbracht. Auf irgendeine wundersame Art hatte Rhys es fertiggebracht, dass sie sich interessant und attraktiv vorkam, ein Erlebnis, das sie berauschte, mindestens so sehr wie der Champagner. Als Rhys sie vor dem Internat absetzte, sagte sie: »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Soviel Spaß habe ich noch nie gehabt.«
»Bedanken Sie sich bei Ihrem Vater.« Rhys grinste. »Das war ganz allein seine Idee.«
Doch Elizabeth wusste genau, dass es nicht stimmte.
Rhys Williams, entschied sie, war der tollste Mann, der ihr je begegnet war. Und auf jeden Fall der attraktivste. Noch beim Zubettgehen ging er ihr nicht aus dem Sinn. Plötzlich stand sie wieder auf und ging zu ihrem kleinen Schreibtisch am Fenster. Sie nahm ein Stück Papier und den Kugelschreiber und schrieb »Mrs. Rhys Williams«.
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