Für Natalie In Liebe
»Sorgfältig präpariert der Arzt eine Tinktur aus Krokodildung, Eidechsenfleisch, dem Blut von Fledermäusen und Kamelspucke...«
Aus einer Liste von 811 Arzneien der Ägypter, auf Papyrus, 1550 v. Chr.
Istanbul
Samstag, 5. September, 22 Uhr
Er war allein, saß im Dunkeln an Hadjib Kafirs Schreibtisch, starrte mit blindem Blick durch die verschmutzten Bürofenster auf die zeitlosen Minarette von Istanbul. Ein Dutzend Metropolen rund um die Welt war ihm vertraut wie sein Zuhause, aber Istanbul gehörte zu seinen Lieblingsplätzen; nicht die von Touristen überlaufene Beyoglustraße oder die protzige Lalezab-Bar im Hilton, vielmehr die abgelegenen Winkel, wo man nur Moslems antrifft: die Djalis und die kleinen Bazare jenseits der Souks.
Er wartete, und in seinem Warten lag die Geduld des Jägers, die entspannte Haltung eines Mannes, der Geist und Körper unter Kontrolle hat. Der Mann stammte aus Wales, seine Züge, von leidenschaftlicher Attraktivität, trugen den Stempel seiner Vorfahren. Sein Haar war schwarz, das Gesicht energisch, scharf geschnitten; die intelligenten Augen leuchteten tiefblau. Über ein Meter achtzig groß, zeigte er die muskulöse Schlankheit eines durchtrainierten Mannes. Das Büro war erfüllt von den Gerüchen Hadjib Kafirs, dem penetrant-süßen Tabakaroma, dem scharfbitteren Kaffeeduft und den Ausdünstungen seines fetten, öligen Körpers. Rhys Williams nahm das alles jedoch nicht wahr. Seine Gedanken kreisten um den Anruf, der ihn vor einer Stunde aus Chamonix erreicht hatte.
»... Ein entsetzlicher Unfall! Glauben Sie mir, Mr. Williams, wir sind hier alle völlig entgeistert. Es passierte so ungeheuer schnell, dass es überhaupt keine Chance zur Rettung gab. Mr. Roffe war auf der Stelle tot.«
Sam Roffe: Präsident und verantwortlicher Chef von Roffe und Söhne, dem zweitgrößten pharmazeutischen Konzern der Welt, einer den Globus umspannenden Multimilliarden-Dollar-Dynastie. Sam Roffe tot - ein unfasslicher Gedanke. Er, der immer voller Energie und Leben steckte, ein Mann, der ständig und unaufhörlich in Bewegung war, in den Flugzeugen zu Hause, die ihn rund um den Erdball brachten, zu den Fabriken und Niederlassungen des Konzerns, wo es galt, Schwierigkeiten zu beseitigen, mit denen andere nicht fertig wurden, neue Konzeptionen und Strategien auszuarbeiten, seine Mitarbeiter bis zum Äußersten anzutreiben. Obwohl er geheiratet hatte und Vater eines Kindes war, blieb sein eigentliches Interesse sein ganzes Leben lang dem Konzern verhaftet. Sam Roffe war eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen, ein imposanter Mann. Wer sollte ihn ersetzen können? Wer hatte das Zeug dazu, sein Erbe anzutreten, das gigantische Unternehmen zu regieren? Sam Roffe hatte keinen Kronprinzen herangezogen. Warum auch? Schließlich war ihm nie in den Sinn gekommen, mit zweiundfünfzig Jahren zu sterben. Sein Erbe brauchte er noch lange nicht zu regeln, dazu war noch viel Zeit, hatte er geglaubt.
Und jetzt war die Uhr plötzlich abgelaufen.
Im Büro flammten die Lichter auf. Rhys Williams, momentan geblendet, sah zur Tür.
»Mr. Williams! Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier sind.« Die Stimme gehörte Sophie, einer der Sekretärinnen der Niederlassung, die bei jedem seiner Aufenthalte in Istanbul für Rhys Williams abgestellt wurde. Sie war Türkin, Mitte Zwanzig, mit attraktivem Gesicht und geschmeidigem, sinnlichem Körper, die lebendige Verheißung. Mit der geheimnisvollen, uralten Körpersprache hatte sie Rhys Williams zu verstehen gegeben, dass sie ihm über das Geschäftliche hinaus zur Verfügung stand, für alle Annehmlichkeiten, die er begehrte, doch Rhys hatte kein Interesse gezeigt.
Jetzt sagte sie: »Ich bin noch mal gekommen, um ein paar Briefe für Mr. Kafir zu erledigen. Aber vielleicht gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?«
Sie kam näher, und Rhys spürte den moschusartigen Geruch des wilden Tieres in der Brunstzeit.
»Wo ist Mr. Kafir?«
Sophie schüttelte bedauernd den Kopf. »Er ist fortgegangen, hat für heute Schluss gemacht.« Mit ihren weichen, ausdrucksvollen Händen strich sie sich das Kleid glatt. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Ihre Augen glänzten dunkel und feucht.
»Das können Sie«, erwiderte Rhys. »Treiben Sie Kafir auf.« Sie krauste die Stirn. »Ich habe keine Ahnung, wo -«
»Versuchen Sie es in der Karawanserei oder im Mermara.« Rhys selbst tippte auf die Karawanserei, wo eine aus der Sammlung von Hadjib Kafirs zahlreichen Geliebten als Bauchtänzerin auftrat. Obwohl man bei Kafir nie wissen konnte, schoss es ihm durch den Kopf. Möglicherweise steckte er sogar bei seiner Frau.
Sophie war das leibhaftige Bedauern. »Ich will es gern versuchen, aber ich fürchte, ich - «
»Richten Sie ihm aus, wenn er nicht innerhalb einer Stunde hier auftaucht, hat er keinen Job mehr.«
Sofort veränderte sich ihre Miene. »Selbstverständlich, Mr. Williams, ich werde sehen, was ich tun kann.« Sie bewegte sich auf die Tür zu.
»Und machen Sie das Licht aus.«
Mit seinen Gedanken im Dunkeln zu sitzen, erschien ihm irgendwie erträglicher. Immer wieder drängte sich ihm Sam Roffes Bild auf. Den Montblanc zu besteigen -eigentlich fast ein Kinderspiel zu dieser Jahreszeit, Anfang September. Sam hatte den Berg schon mehrmals in Angriff genommen, aber immer hatte ihn die Witterung vor Erreichen des Gipfels zur Umkehr gezwungen.
»Diesmal klappt’s, da pflanze ich oben die KonzernFahne auf«, hatte er Rhys halb im Scherz versprochen.
Und dann, soeben, der Anruf, als Rhys sich im Pera Palace Hotel zur Abreise rüstete. Er hatte die aufgeregte Stimme aus dem Telefon noch im Ohr. »... Sie waren gerade beim Überqueren eines Eisfeldes. Mr. Roffe verlor den Halt, und da riss die Leine. Er stürzte in eine abgrundtiefe Gletscherspalte.«
Rhys sah Sams Körper vor sich, wie er auf das unbarmherzige Eis aufschlug und in den Abgrund stürzte, tiefer, immer tiefer. Er zwang sich von dem Bild los. Das gehörte der Vergangenheit an. Seine Gedanken mussten sich auf die Gegenwart konzentrieren. Es gab genug Probleme zu überdenken. Die Todesnachricht musste Sam Roffes Familie übermittelt werden, und die befand sich an den verschiedensten Ecken der Welt. Dann galt es, eine Verlautbarung für die Presse aufzusetzen. Die Nachricht würde die internationale Finanzwelt erschüttern wie die Druckwelle nach einer schweren Explosion. Schließlich steckte der Konzern in einer finanziellen Krise, und da war es geradezu lebenswichtig, den Schock der Nachricht vom Ableben des Konzernchefs so weit wie möglich zu dämpfen, eine Aufgabe, die Rhys selbst zu meistern hatte.
Rhys Williams war Sam Roffe vor neun Jahren zum ersten Mal begegnet. Rhys, damals fünfundzwanzig, hatte als Verkaufschef einer kleinen pharmazeutischen Firma gearbeitet. Er war ein brillanter Manager mit einem todsicheren Spürsinn für Neuerungen, und in dem Maße, wie das Unternehmen florierte, stieg Rhys’ Ansehen. Roffe und Söhne boten ihm einen Posten an, und als er ablehnte, kaufte Sam Roffe die Firma, für die Rhys arbeitete, einfach auf und ließ ihn zu sich kommen. Noch jetzt spürte Rhys den überwältigenden Eindruck, den Roffes Persönlichkeit bei jenem ersten Treffen auf ihn ausgeübt hatte.
»Ihr Platz ist hier, bei Roffe und Söhne«, hatte Sam ihm kurz und bündig erklärt. »Aus diesem Grund habe ich die Klitsche gekauft.«
Rhys hatte sich geschmeichelt gefühlt, war aber gleichzeitig irritiert. »Was ist, wenn ich nicht bleiben will?«
Sam Roffe hatte gelächelt. »Keine Angst, Sie werden bleiben. Wir beide, Sie und ich, haben eines gemeinsam, Rhys. Wir stecken voller Ehrgeiz. Wir wollen die Welt erobern. Und ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht.«
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