An einem Spätnachmittag, als Samuel nach Hause kam, stand vor dem Haus ein altes Pferd mit einem klapprigen Wagen. Auf dem Wagen war mit groben Buchstaben aufgemalt: roffe& sohn. Samuel starrte ihn ungläubig an, rannte ins Haus, auf der Suche nach seinem Vater. »Das - das Pferd da draußen«, keuchte er. »Wo hast du’s her?«
Der Vater lächelte voller Stolz. »Hab’ ein Geschäft gemacht. Mit dem Pferd können wir längere Wege zurücklegen, mehr verdienen. Und in vier oder fünf Jahren, wer weiß, vielleicht reicht’s dann zu einem zweiten. Stell dir vor, dann haben wir zwei Pferde.«
Seines Vaters Ehrgeiz zielte also auf zwei Pferde, alte, klapprige Gäule, die ihre Karren durch die schmutzigen, engen Straßen des Ghettos zogen. Samuel hätte am liebsten geheult.
In jener Nacht, als alles schlief, schlich er in den Stall und untersuchte das Pferd. Sie hatten es auf den Namen »Ferdl« getauft. Zweifellos gehörte Ferdl zu den elendsten seiner Gattung. Es war uralt, hatte ein hohles Kreuz und lahmte. Samuel kam es äußerst zweifelhaft vor, ob sich der Karren mit dem Pferd schneller vorwärtsbewegen ließ als mit dem Vater. Aber das alles spielte keine Rolle. Einzig wichtig war für Samuel, dass er jetzt sein Versuchstier hatte. Von nun an konnte er experimentieren, ohne sich erst mühsam Ratten oder Katzen zu beschaffen. Selbstverständlich musste er vorsichtig zu Werke gehen. Sein Vater durfte nie dahinterkommen. Samuel streichelte dem Pferd den Kopf. »Von nun an bist du im Arzneigeschäft tätig«, informierte er Ferdl.
In einer Stallecke, dicht neben dem Pferd, richtete Samuel sich provisorisch ein Labor ein.
In einer Schüssel mit fetter Brühe züchtete er Diphtheriebakterien. Als die Brühe wolkig-trüb wurde, goss er etwas davon in einen anderen Behälter und schwächte die Mischung ab, indem er die Brühe erst verdünnte und dann leicht erhitzte. Darauf füllte er eine hypodermische Spritze mit der Flüssigkeit und trat an das Pferd heran. »Weißt du noch, was ich dir vorausgesagt habe?« flüsterte er. »Also, das ist heute dein großer Tag.«
Und er spritzte den Inhalt unter die schlaffe Pferdehaut, dicht an der Schulter, wie er es bei Dr. Wal gesehen hatte. Ferdl drehte den Kopf, sah ihn vorwurfsvoll an und rächte sich mit einer Urindusche.
Nach Samuels Berechnungen würde es etwa zweiundsiebzig Stunden dauern, bis sich die Kultur im Tier entwickelt hatte. Am Ende dieser Zeitspanne würde er ihm eine größere Dosis verabreichen. Dann noch eine. Wenn die Antikörper-Theorie stimmte, würde mit jeder Dosis ein stärkerer Blutwiderstand gegen die Krankheit aufgebaut. Und Samuel hatte seinen Impfstoff. Später musste er ihn dann auch an einem Menschen ausprobieren, aber da sah er kein Problem. Jedes Opfer der gefürchteten Krankheit würde nur zu gern ein Mittel ausprobieren, das ihm das Leben retten konnte.
Die nächsten beiden Tage verbrachte Samuel fast ununterbrochen im Stall bei Ferdl.
»So eine Tierliebe hab’ ich noch nie gesehen«, bemerkte sein Vater. »Kannst dich wohl gar nicht von ihm trennen, was?« Samuel murmelte etwas Unverständliches. Sein heimliches Tun bereitete ihm Schuldgefühle, aber er wusste, was fällig war, wenn er seinem Vater auch nur eine Silbe davon verriet. Außerdem war es auch gar nicht nötig, seinen Vater einzuweihen. Alles, was Samuel haben wollte, war etwas Blut von Ferdl für ein oder zwei Röhrchen Serum, und niemand brauchte je dahinterzukommen.
Am Morgen des dritten und entscheidenden Tages wachte Samuel von einem fürchterlichen Geschrei auf. Es war die Stimme seines Vaters. Hastig stand Samuel auf und sah aus dem Fenster. Da stand sein Vater mit dem Wagen und zeterte, was die Lungen hergaben. Vom Pferd war weit und breit nichts zu sehen. Samuel warf sich ein paar Kleidungsstücke über und lief auf die Straße.
»Verbrecher!« kreischte der Vater. »Betrüger! Lügner! Dieb!«
Um ihn herum sammelte sich eine Menschenmenge an. Samuel bahnte sich einen Weg.
»Wo ist Ferdl?« wollte er wissen.
»Gute Frage, prächtige Frage!« jammerte der Vater. »Wo kann er schon sein? Tot ist er. Auf der Straße verreckt wie ein Hund.«
Samuels Herz sank.
Sein Vater setzte die laute Klage fort. »Da sind wir unterwegs, ganz gemächlich, bitte sehr. Ich mach’ meine Geschäfte wie jeden Tag, nichts Besonderes. Nein, wirklich, ich hab’ ihn nicht getriezt oder mit der Peitsche geschlagen wie andere Trödler, deren Namen ich nennen könnte, wenn du mich fragst. Nichts da, bin ich doch wie ein Vater zu dem Gaul. Und womit dankt er’s mir? Fällt um und ist tot. Wenn ich den Kerl fasse, der ihn mir verhökert hat, den bring’ ich um!«
Samuel wandte sich ab; es zerriss ihm das Herz. Er hatte mehr verloren als einen Gaul. Seine Träume waren gestorben. Der Tod des Pferdes bereitete allem ein Ende: der Flucht aus dem Ghetto, der Freiheit, dem schönen Haus für Terenia und die Kinder.
Aber das Schicksal schlug noch härter zu.
Am Tag nach Ferdls Tod erfuhr Samuel, dass Terenias Heirat mit einem Rabbi beschlossene Sache sei. Samuel konnte es nicht glauben. Terenia gehörte ihm! Er rannte zum Waischen Haus. Dr. Wal und seine Frau hielten sich im Wohnzimmer auf. Samuel trat vor sie hin, holte tief Luft und verkündete: »Hier muss ein Irrtum vorliegen. Terenia wird mich heiraten.«
In wortlosem Erstaunen starrten sie ihn an.
»Ja, ja, ich weiß, ich bin nicht gut genug für sie«, fuhr Samuel hastig fort. »Aber sie wird mit keinem anderen glücklich als mit mir. Der Rabbi ist viel zu alt für -«
»Nebbich! Raus hier! Raus, raus!« Terenias Mutter war der Ohnmacht nahe.
Und eine Minute später fand sich Samuel auf der Straße wieder, belegt mit striktestem Hausverbot für alle Zeiten.
Diese Nacht hielt er lange Zwiesprache mit Gottvater.
»Was hast du dir eigentlich gedacht, was willst du von mir? Wenn ich Terenia nicht für mich haben kann, warum hast du dann gemacht, dass ich sie liebe? Hast du denn gar kein Herz?« Voller Verzweiflung hob er die Stimme und rief: »Hörst du mich?«
»Wir hören dich alle, Samuel«, klang es vielstimmig durch die dünnen Wände zurück. »Um Gottes willen, halt das Maul und lass uns schlafen.«
Am darauffolgenden Nachmittag ließ Dr. Wal nach Samuel schicken. Der Junge wurde ins Wohnzimmer geführt, wo sich der Arzt, seine Frau und Terenia befanden.
»Da hat sich ein Problem ergeben«, eröffnete ihm der Arzt. »Unsere Tochter kann, wenn es ihr beliebt, äußerst hartnäckig sein. Aus unerfindlichen Gründen hat sie einen Narren an dir gefressen, Samuel. Von Liebe kann man da wohl nicht reden, weil ich nicht glaube, dass junge Damen wissen, was das eigentlich ist. Wie dem auch sei, sie weigert sich, Rabbi Rabinowitz zu ehelichen. Sie bildet sich ein, sie will nur dich.«
Samuel wagte einen Seitenblick auf Terenia. Sie lächelte ihm zu, und er glaubte, sein Herz müsste vor Freude zerspringen. Aber es war ein kurzlebiges Glücksgefühl.
Denn Dr. Wal fuhr fort: »Du hast gesagt, du liebst meine Tochter.«
»J-j-ja, Herr Doktor«, stammelte Samuel. Er versuchte es noch mal, diesmal ging es ihm glatter von der Zunge. »Jawohl.«
»Dann will ich dich etwas fragen, Samuel. Möchtest du, dass Terenia für den Rest ihres Lebens die Frau eines Trödlers ist?« Samuel erkannte die Falle sofort, aber es gab keinen Weg an ihr vorbei. Noch einmal sah er Terenia an, dann sagte er bestimmt: »Nein, Dr. Wal.«
»Aha. Also bist du dir des Problems bewusst. Niemand von uns will Terenia mit einem Trödler verheiratet sehen. Du aber bist ein Trödler, Samuel.«
»Doch ich werde nicht immer einer sein, Dr. Wal.« Samuels Stimme war von Überzeugungskraft getragen.
»Und was wirste dann sein wollen?« fauchte Madame Wal. »Kommste aus einer Trödlerfamilie, wirste immer einer bleiben. So einer kommt für meine Tochter nicht in Frage, das lass’ ich nicht zu.«
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