Sie wird also meine erste Geigenlehrerin. Bei ihr bleibe ich anderthalb Jahre. Dann, ich bin mittlerweile viereinhalb, wird entschieden, dass zur Förderung meiner Begabung eine weniger konventionelle Art des Unterrichts notwendig ist.
Das, Dr. Rose, ist die Gideon-Legende. Sind Sie mit der Kunst des Geigenspiels vertraut genug, um zu erkennen, an welcher Stelle sie in die Fantasie abgleitet?
Es ist uns gelungen, die Legende zu verkaufen, indem wir sie als Legende bezeichnen und stets mit einem nachsichtigen Lachen abtun. Alles Unsinn, sagen wir, jedoch mit einem viel sagenden Lächeln. Miss Orr ist schon lange tot, sie kann keinen Widerspruch erheben. Und nach Miss Orr kam Raphael Robson, dessen Interesse an der Wahrheit begrenzt ist.
Aber Sie sollen die Wahrheit erfahren, Dr. Rose. Mögen Sie über mich und meine Reaktion auf dieses Unternehmen hier denken, was Sie wollen, ich möchte Ihnen die Wahrheit sagen.
Ich befinde mich an diesem Tag mit einer Sommerspielgruppe, die für ein geringes Entgelt von einem Kloster in der Nähe für die Kinder der Umgebung initiiert wurde, in den Gartenanlagen am Kensington Square. Beaufsichtigt wird die Gruppe von drei Studentinnen, die in einem Heim hinter dem Kloster wohnen. Wir Kinder werden täglich von zu Hause abgeholt und marschieren dann, von einer der Studentinnen angeführt, in Zweierreihen zu unserem Spielplatz. Dort sollen wir im gemeinschaftlichen Spiel grundlegende soziale Fertigkeiten erlernen, die uns später in der Schule von Nutzen sein werden.
Unter der Anleitung der jungen Frauen machen wir Spiele, wir malen und basteln, wir turnen. Und sobald wir beschäftigt und in unser Tun vertieft sind, ziehen sich die Studentinnen - ohne Wissen unserer Eltern natürlich - in diesen kleinen Bau zurück, der einem griechischen Tempelchen gleicht, um miteinander zu schwatzen und Zigaretten zu rauchen.
An diesem besonderen Tag sind wir Kinder alle mit unseren Dreirädern unterwegs. Und während ich auf meinem fahrbaren Untersatz mit der kleinen Meute zusammen um die Grünanlagen herumkurve, hält einer der Jungen an, ein Junge wie ich, lässt seine Hose herunter und pinkelt ganz offen auf den gepflegten Rasen. Es gibt einen Riesenwirbel, und der Missetäter wird zur Strafe schnurstracks nach Hause gebracht.
Das ist der Moment, wo die Musik einsetzt. Die beiden Studentinnen, die noch da sind, haben keine Ahnung, was wir hören, aber ich möchte den Klängen nachgehen und dränge mit einer für mich so ungewöhnlichen Hartnäckigkeit, dass eine der Studentinnen - eine Italienerin, glaube ich, ihr Englisch ist nicht gut, auch wenn sie ein großes Herz hat - sich bereit erklärt, mit mir zusammen die Musik zu suchen. Und so gelangen wir in das Peabody-Haus, wo wir auf Miss Orr treffen.
Miss Orr spielt nicht, tut auch nicht so, als spielte sie, und weint auch nicht, als die Studentin und ich in ihr Wohnzimmer treten. Sie hat gerade eine Musikstunde gegeben und beendet sie, wie das - so erfahre ich später - ihrer Gewohnheit entspricht, indem sie ihrem Schüler auf ihrer Stereoanlage ein Musikstück vorspielt. Diesmal ist es das Violinkonzert von Brahms.
Ob ich Musik mag, möchte sie wissen.
Ich weiß darauf keine Antwort. Ich weiß nicht, ob ich Musik mag. Ich weiß nur, ich möchte auch solche Musik machen können. Aber ich bin schüchtern und sage nichts, sondern verstecke mich hinter der Italienerin, die mich schließlich an der Hand nimmt, sich in ihrem etwas schwerfälligen Englisch entschuldigt und mich wieder nach draußen führt.
So war es wirklich.
Natürlich möchten Sie jetzt wissen, wie dieser wenig verheißungsvolle Beginn meines Lebens als Musiker sich in die Gideon-Legende verwandelte. Wie, um es anders auszudrücken, aus der weggeworfenen Waffe, die in einer Höhle hundert Jahre Kalk ansetzte, Excalibur wurde, das Schwert im Stein. Ich kann nur Mutmaßungen anstellen, da die Legende das Machwerk meines Vaters ist, nicht meines.
Am Ende des Tages, wenn die Kinder der Spielgruppe nach Hause gebracht wurden, erhielten die Eltern in der Regel einen kurzen Bericht über Entwicklung und Verhalten ihres Sprösslings. Das war es ja wohl, was sie sich von der Investition erhofften: tägliche Hinweise darauf, dass die soziale Reife ihres Kindes Fortschritte machte.
Weiß der Himmel, was die Eltern des kleinen Pinkelhelden an diesem Nachmittag zu hören bekamen. Meine Eltern jedenfalls hörten von meiner Begegnung mit Rosemary Orr.
Ich vermute, die Berichterstattung spielte sich bei uns zu Hause im Wohnzimmer ab, wo Großmutter den Tee kredenzte, den sie Großpapa jeden Nachmittag auftischte, um ihn in eine Atmosphäre alltäglicher Normalität einzubetten und vor einem Überfall durch eine »Episode« zu schützen. Vielleicht war mein Vater auch da, vielleicht gesellte sich auch James, der Untermieter, dazu, der eines der leer stehenden Zimmer im dritten Stockwerk des Hauses gemietet hatte und so dazu beitrug, dass wir finanziell über die Runden kamen.
Die italienische Studentin - ich muss allerdings sagen, dass sie genauso gut Griechin, Spanierin oder Portugiesin gewesen sein kann - wurde zweifellos aufgefordert, eine Tasse Tee mit uns zu trinken, und hatte somit hinreichend Gelegenheit, die Geschichte unserer Begegnung mit Rosemary Orr zu erzählen.
»Der Kleine«, sagte die Italienerin, »wollte die Musik suchen gehen, der wir gelauscht haben, und da sind wir ihr nachgespurt -«
»Sie meint wahrscheinlich >gehört< und >nachgegangen<���«, wirft der Untermieter ein, der, wie ich schon erwähnte, James heißt. Des Öfteren habe ich meinen Großvater empört trompeten hören, sein Englisch sei »zu perfekt, um wahr zu sein«, und er könne nur ein Spion sein. Ich höre ihm trotzdem gern zu. Die Worte rollen James, dem Untermieter, von den Lippen wie goldene Orangen, saftig und rund. Er selbst allerdings ist alles andere als saftig und rund, nur seine Wangen, die sind rund und rot und röten sich noch mehr, wenn er merkt, dass er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
»Erzählen Sie weiter«, sagt er zu der italienischspanisch-griechisch-portugiesischen Studentin. »Achten Sie nicht auf mich.«
Sie lächelt. Der Untermieter gefällt ihr. Ich vermute, sie hätte nichts dagegen, wenn er ihr helfen würde, ihr Englisch zu verbessern. Sie wäre gern gut Freund mit ihm.
Ich selbst habe keine Freunde - trotz der Spielgruppe -, aber ich habe nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Ich habe ja meine Familie, in deren Liebe ich eingebunden bin. Mein Leben spielt sich ganz anders ab als das der meisten Kinder meines Alters, die von der Erwachsenenwelt isoliert im Kinderzimmer hausen, von irgendeiner Kinderfrau betreut ihre Mahlzeiten allein einnehmen und, abgesehen von periodischen Auftritten im Kreis der Familie, nur eine eng begrenzte Welt kennen lernen, bis sie endlich eines Tages ins Internat verfrachtet werden. Nein, ich habe Anteil an der Welt der Erwachsenen, mit denen ich zusammenlebe. Ich bekomme sehr viel von dem mit, was in meinem Zuhause geschieht, und wenn ich mich vielleicht auch nicht an die Ereignisse selbst erinnere, so sind mir doch die Eindrücke gegenwärtig, die sie hervorgerufen haben.
Ich entsinne mich also dessen: Wie die Geschichte von der Geigenmusik erzählt wird und Großvater mit einer ausführlichen Erörterung von Paganinis Musik mitten hineinplatzt. Großmama setzt seit Jahren Musik ein, um ihn zu beruhigen, wenn eine »Episode« droht und noch Hoffnung besteht, sie abzuwenden, und nun lässt er sich mit einer Bestimmtheit, die sich wie Autorität anhört, aber, wie ich heute weiß, nichts als Größenwahn ist, über Triller und Strich, über Vibrato und Glissandi aus. Er schwadroniert mit dröhnender Stimme, ein ganzes Orchester für sich allein, und keiner unterbricht ihn oder widerspricht ihm, als er im Tonfall Gottes, der Licht befiehlt, der Runde verkündet: »Dieser Junge wird spielen!« Und damit meint er mich.
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