Michael Moretti blickte auf die Uhr. Schon am Grab seines Schwiegervaters hatte er festgestellt, daß er eine Verabredung, die er für den späten Vormittag getroffen hatte, nicht mehr einhalten konnte. Er beschloß, sein Büro anzurufen und den Termin verlegen zu lassen. Er hielt auf dem Weg in die Stadt an einer Telefonzelle und wählte die Nummer. Das Telefon klingelte einmal, dann meldete sich eine Stimme: »Bauunternehmen Vollkommenheit.« Michael sagte: »Hier spricht Mike. Sag...«
»Mr. Moretti ist nicht da. Rufen Sie später noch einmal an.« Michaels Körper versteifte sich. Er sagte nur noch: »Tony's Place.« Dann hängte er auf und rannte zum Wagen. Rosa warf einen Blick auf sein Gesicht und fragte: »Ist alles in Ordnung, Michael?«
»Das wüßte ich selber gern. Ich setze dich bei deiner Cousine ab. Bleib da, bis du von mir hörst.«
Tony folgte Michael in das Büro im hinteren Teil des Restaurants.
»Ich habe gehört, daß es in deinem Haus und dem Büro in Manhattan von Bundespolizisten nur so wimmelt, Mike.« »Danke«, sagte Michael. »Ich möchte nicht gestört werden.« »Ich sorge dafür.«
Michael wartete, bis Tony den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann hob er den Telefonhörer ab und begann wütend zu wählen.
Michael Moretti brauchte weniger als zwanzig Minuten, um herauszufinden, daß ein mittleres Erdbeben stattfand. Mit steigendem Unglauben empfing er die Berichte von den Razzien und Verhaftungen im ganzen Land. Seine Soldaten und Leutnants wurden von der Straße weg festgenommen. Bullen tauchten an geheimen Treffpunkten auf; Glücksspieloperationen wurden gesprengt, vertrauliche Hauptbücher und geheime Unterlagen beschlagnahmt. Ein Alptraum nahm seinen Lauf. Die Polizei mußte von jemandem innerhalb der Organisation mit Informationen versorgt werden. Michael rief andere Familien im ganzen Land an, und alle wollten wissen, was eigentlich vorging. Ihnen wurden schwere Verluste zugefügt, und niemand wußte, wo das Leck war. Jeder vermutete es bei der Moretti-Familie. Jimmy Guardino in Las Vegas stellte ihm sogar ein Ultimatum. »Ich rufe im Auftrag der Kommission an, Michael.« In Krisenzeiten war die Kommission die höchste Instanz, der sich jede einzelne Familie unterzuordnen hatte. »Die Polizei hebt alle Familien aus. Diesmal singt eins von den großen Tieren. Dem Gerücht nach soll es einer deiner Jungs sein. Wir geben dir vierundzwanzig Stunden, ihn ausfindig zu machen und zum Schweigen zu bringen.«
In der Vergangenheit waren bei Razzien immer nur die kleinen Fische, auf die man verzichten konnte, ins Netz gegangen. Jetzt wurden zum erstenmal die Männer an der Spitze an Land gezogen. Diesmal singt eins von den großen Tieren. Dem Gerücht nach soll es einer von deinen Jungs sein. Wahrscheinlich hatten sie recht. Seine Familie war am schwersten getroffen worden, und die Polizei war ihm auf den Fersen. Irgend jemand mußte ihnen hieb- und stichfestes Beweismaterial geliefert haben, sonst hätten sie es niemals gewagt, soviel Staub aufzuwirbeln. Aber wer konnte es sein? Michael lehnte sich zurück und dachte nach.
Wer immer die Behörden belieferte, verfügte über Insiderwissen, das nur ihm selber und seinen beiden Vertrauensmännern Joseph Colella und Salvatore Fiore zugänglich war. Nur sie drei wußten, wo die Bücher versteckt gewesen waren, und die Polizei hatte sie gefunden. Der einzige, der noch Bescheid gewußt haben könnte, war Thomas Colfax, aber Colfax lag unter einem Müllhaufen in New Jersey. Michael dachte über Salvatore Fiore und Joseph Colella nach. Es fiel ihm schwer, zu glauben, daß einer von ihnen die omertà, das sizilianische Gesetz des Schweigens, gebrochen haben sollte. Sie waren von Anfang an dabei gewesen, er selber hatte sie mit der Lupe ausgesucht. Er hatte ihnen gestattet, nebenbei ihre eigenen Kreditgeschäfte zu betreiben und einen kleinen Prostituiertenring aufzuziehen. Warum sollten sie ihn verraten? Die Antwort war natürlich einfach: sein Stuhl. Sie wollten seinen Stuhl. Wenn er draußen war, konnten sie einziehen und den Laden übernehmen. Sie waren ein Team; sie steckten zusammen dahinter.
Michael war plötzlich von mörderischer Wut erfüllt. Diese verdammten Bastarde wollten ihn von seinem Thron stoßen, aber sie würden nicht mehr lange ge nug leben, um die Früchte ihrer Arbeit zu genießen.
Als erstes mußte er diejenigen unter seinen Männern, die verhaftet worden waren, auf Kaution herausholen. Er brauchte einen Anwalt, dem er vertrauen konnte. Colfax war tot, und Jennifer - Jennifer! Michael spürte wieder das eisige Gefühl in der Herzgegend. Er konnte sich noch sagen hören: Komm so schnell wie möglich zurück. Du wirst mir fehlen. Ich liebe dich, Jennifer. Er hatte so zu ihr gesprochen, und sie hatte ihn verraten. Dafür würde sie bezahlen.
Michael machte einen Anruf und wartete dann, bis fünfzehn Minuten später Nick Vito in den Raum geeilt kam. »Wie sieht es aus?« fragte Michael.
»Die FBI-Kerle schwärmen immer noch im ganzen Haus herum, Mike. Ich bin ein paarmal um den Block gefahren, habe mich aber an deine Worte gehalten. Ich bin nicht hineingegangen.«
»Ich habe einen Job für dich, Nick.«
»Klar. Boß. Was kann ich für dich tun?«
»Kümmere dich um Salvatore und Joe.« Nick Vito starrte ihn an. »Ich - ich verstehe nicht. Wenn du kümmere dich um sie sagst, meinst du doch nicht etwa...« Michael brüllte: »Ich meine, blas ihnen das verdammte Gehirn aus dem Schädel! Soll ich es dir noch buchstabieren?«
»Nein«, stammelte Nick Vito. »Es ist nur, ich - ich - ich dachte - Sal und Joe sind deine besten Leute!« Michael Moretti stand auf. Seine Augen blickten gefährlich. »Willst du mir erzählen, wie ich meine Geschäfte zu führen habe, Nick?«
»Nein, Mike. Ich - klar! Ich kümmere mich um sie. Wann...?«
»Jetzt. Jetzt gleich. Sie erleben den Mondaufgang heute abend nicht mehr. Hast du kapiert?«
»Ja. Kapiert, Boß.«
Michaels Hände ballten sich zu Fäusten. »Wenn ich die Zeit dazu hätte, würde ich es selber erledigen. Ich möchte, daß es ihnen weh tut. Mach es langsam, Nick. Suppilu, suppilu.«
»Klar. Okay.«
Die Tür flog auf, und Tony stürzte herein, aschgrau im Gesicht. »Da draußen sind zwei FBI-Beamte mit einem Haftbefehl gegen dich. Ich schwöre bei Gott, daß ich keine Ahnung habe, woher sie wissen, daß du hier bist.« Michael Moretti wandte sich an Nick Vito und schnappte: »Los, hinten heraus. Beweg dich schon!« Er blickte Tony an. »Sag ihnen, ich bin auf der Toilette. Ich komme gleich.« Michael hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. Eine Minute später sprach er mit einem Richter des Obersten Gerichtshofs von New York.
»Draußen sind zwei FBI-Leute mit einem Haftbefehl gegen mich.«
»Wessen werden Sie beschuldigt, Mike?«
»Das weiß ich nicht, und es ist mir auch scheißegal. Ich rufe Sie an, damit Sie sich darum kümmern, daß ich auf Kaution freigelassen werde. Ich habe keine Lust, hinter Schloß und Riegel zu kommen. Ich habe einiges zu tun.« Ein kurzes
Schweigen folgte, und dann sagte der Richter vorsichtig: »Ich fürchte, dieses Mal werde ich Ihnen nicht helfen können, Mike. Überall ist die Hölle los, und wenn ich mich einmische...«
Als Michael antwortete, hatte seine Stimme einen unheilvollen Klang. »Hören Sie zu, Sie Arschloch, und hören Sie gut zu. Wenn ich auch nur eine einzige Stunde im Gefängnis verbringen muß, sorge ich dafür, daß Sie für den Rest Ihres Lebens hinter Gitter gebracht werden. Ich habe mich Ihrer sehr lange angenommen. Wollen Sie, daß ich dem Staatsanwalt erzähle, wie viele Fälle Sie für mich in Ordnung gebracht haben? Wollen Sie, daß ich dem Finanzamt die Nummer Ihres Schweizer Bankkontos gebe? Wollen Sie...«
»Um Himmels willen, Michael!« »Dann setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung.« »Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Richter Lawrence Waldman. »Ich werde versuchen...«
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