Stefan Bjork warf Jennifer einen Blick zu und sagte heiser:
»Beeilen Sie sich!«
Als Jennifer wieder im Hotel war, fand sie eine Nachricht vor. Inspektor Touh hatte angerufen. Während sie die Zeilen überflog, klingelte das Telefon. Es war der Inspektor. »Ich dachte, daß Sie vielleicht gern eine kleine Stadtrundfahrt unternehmen würden, während Sie warten, Miß Parker.«
Zuerst wollte Jennifer ablehnen, aber dann überlegte sie, daß sie nichts tun konnte, bis sie Bjork sicher in einem Flugzeug aus Singapur herausgebracht hatte, und so lange war es wichtig, Inspektor Touh bei Laune zu halten. Jennifer sagte: »Danke schön. Das würde mir Spaß machen.«
Sie aßen bei Kampachi zu Mittag und fuhren dann aufs Land hinaus. Sie nahmen die Bukit-Timan-Straße nach Malaysia und kamen durch eine Reihe farbenprächtiger kleiner Dörfer voller Lebensmittelstände und Geschäfte. Die Menschen waren gut gekleidet und wirkten wohlhabend. Jennifer und Inspektor Touh hielten am Friedhof von Kranji und stiegen die Stufen zu den großen blauen Toren hinauf. Vor ihnen erhob sich ein großes Marmorkreuz und im Hintergrund eine riesige Säule. Dazwischen erstreckte sich ein Meer weißer Kreuze.
»Der Krieg war sehr schlimm für uns«, sagte Inspektor Touh. »Wir alle haben viele Freunde und Familienmitglieder verloren.«
Jennifer sagte nichts. Vor ihrem inneren Auge stieg ein Grab in Sands Point auf. Aber sie durfte nicht daran denken, was unter dem kleinen Hügel lag.
Bei der Nachrichtendiensteinheit der Polizei in Manhattan fand eine Konferenz verschiedener Dienststellen zur Verbrechensbekämpfung statt. Eine Stimmung von Triumph und Aufregung hing in der Luft. Viele der Männer hatten die Tatsache einer weiteren Untersuchung lange Zeit mit Zynismus betrachtet. Jahr um Jahr hatten sie immer wieder überwältigendes Beweismaterial gegen Schläger, Mörder und Erpresser zusammengetragen, und in einem Fall nach dem anderen hatten teure, gerissene Anwälte Freispruch über Freispruch für die Verbrecher, die sie vertraten, erreicht. Diesmal würde der Hase in die andere Richtung laufen. Sie hatten die Zeugenaussage von consigliere Thomas Colfax, und niemand würde das erschüttern können. Über fünfundzwanzig Jahre war Colfax die Radnabe der Mafia gewesen. Er würde vor Gericht auftreten und Namen, Daten, Fakten und Zahlen nennen. Und bald würden sie das Zeichen zum Losschlagen erhalten.
Adam hatte härter als alle anderen in diesem Raum gearbeitet, um zu diesem Punkt zu gelangen. Es hatte der Triumphwagen werden sollen, der ihn direkt ins Weiße Haus transportieren sollte. Und jetzt, wo der Augenblick da war, schmeckte der Sieg nach Asche. Vor Adam lag eine Liste mit Leuten, die von der Grand Jury unter Anklage gestellt worden waren. Der vierte Name auf der Liste war der von Jennifer Parker, und sie wurde des Mordes und der Verschwörung zu einem halben Dutzend anderer Kapitalverbrechen beschuldigt. Adam Warner blickte sich im Raum um und zwang sich, ein paar Worte zu sagen. »Ich - ich möchte Ihnen allen gratulieren.«
Er versuchte, noch mehr zu sagen, aber er brachte kein weiteres Wort heraus. Er war von solchem Abscheu vor sich selber erfüllt, daß es fast körperlich schmerzte.
Die Spanier haben recht, dachte Michael Moretti. Rache schmeckt am besten, wenn man sie kalt genießt. Der einzige Grund, aus dem Jennifer Parker noch lebte, lag in ihrer Abwesenheit. Sie war außer Reichweite. Aber bald würde sie zurückkehren. Und in der Zwischenzeit konnte Michael sich ausmalen, was er mit ihr anstellen würde. Sie hatte ihn auf jede nur mögliche Weise betrogen. Deswegen würde er sie mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln.
In Singapur versuchte Jennifer, zu Michael durchzukommen.
»Es tut mir leid«, sagte die Telefonistin, »aber alle Leitungen in die Vereinigten Staaten sind belegt.«
»Würden Sie es bitte weiter versuchen?«
»Natürlich, Miß Parker.«
Das Mädchen sah zu dem Mann neben dem Schaltbrett auf und lächelte ihm verschwörerisch zu.
In seinem Hauptquartier blickte Robert Di Silva auf einen Haftbefehl, der ihm gerade zugestellt worden war. Der Name auf dem Papier lautete Jennifer Parker. Endlich habe ich sie, dachte er. Und er verspürte wilde Genugtuung.
Die Telefonistin verkündete: »Inspektor Touh wartet im Foyer auf Sie.«
Jennifer war überrascht, denn sie hatte den Inspektor nicht erwartet. Er mußte Neuigkeiten von Stefan Bjork haben. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter in die Halle. »Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht angerufen habe«, entschuldigte der Inspektor sich. »Ich dachte, ich rede am besten persönlich mit Ihnen.«
»Haben Sie Neuigkeiten für mich?«
»Wir können uns im Wagen unterhalten. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Sie fuhren die Yio-Chu-Kang-Straße entlang. »Gibt es Probleme?« fragte Jennifer.
»Überhaupt nicht. Übermorgen wird die Kaution festgesetzt.« Wohin brachte er sie dann?
Sie passierten einen Gebäudekomplex an der Jalan Goatopah-Straße, und der Fahrer hielt an.
Inspektor Touh wandte sich an Jennifer. »Ich bin sicher, das wird Sie interessieren.«
»Was denn?«
»Kommen Sie mit, Sie werden schon sehen.« Das Innere des Gebäudes, das sie betraten, wirkte alt und heruntergekommen. Ein überwältigender, wilder und primitiver Moschusgestank hing in der Luft. Er war anders als alles, was Jennifer je gerochen hatte.
Ein junges Mädchen eilte auf sie zu und fragte: »Möchten Sie eine Begleitung haben? Ich...«
Der Inspektor winkte sie zur Seite. »Wir brauchen dich nicht.« Er nahm Jennifers Arm, und sie gingen ins Freie auf ein Gelände hinter dem Gebäude. Vor ihnen lag ein halbes Dutzend in die Erde versenkter Becken, aus denen seltsame, gleitende Geräusche drangen. Jennifer und Inspektor Touh erreichten das erste Gehege. Auf einem Schild stand: Nicht zu nah an die Becken treten. Gefahr! Jennifer blickte hinein. In dem Becken wimmelte es von Krokodilen und Alligatoren, die sich in ständiger Bewegung befanden, über- und untereinander glitten. Es mußten mindestens dreißig sein. Jennifer erschauerte. »Wo sind wir?«
»Das ist eine Krokodilfarm.« Er starrte zu den Reptilien hinein. »Wenn sie zwischen drei und sechs Jahre alt sind, werden sie gehäutet und zu Handtaschen, Gürteln und Schuhen verarbeitet. Wie Sie sehen, haben die meisten ihre Mäuler offen. Auf diese Weise faulenzen sie. Erst wenn sie die Mäuler schließen, muß man vorsichtig sein.« Sie gingen zu einem anderen Becken, in dem zwei riesige Alligatoren lagen. »Die hier sind fünfzehn Jahre alt. Sie sind nur zur Fortpflanzung da.«
Jennifer schüttelte sich. »Mein Gott, sind die häßlich. Wie können die sich nur gegenseitig ertragen!« Inspektor Touh sagte: »Tatsächlich können sie das auch nicht. Sie paaren sich nicht sehr oft.«
»Sie wirken richtig urzeitlich.«
»Genau. Sie sind Millionen Jahre alt und haben immer noch dieselben primitiven Verhaltensweisen wie zu Beginn der Zeiten.«
Jennifer fragte sich, warum Touh sie hergebracht hatte. Wenn er glaubte, diese scheußlich aussehenden Bestien interessierten sie, hatte er sich getäuscht. »Können wir gehen?« fragte sie.
»Gleich.« Der Inspektor sah zu dem jungen Mädchen hinüber, das sie am Eingang getroffen hatten. Es trug einen Eimer zu dem ersten Becken.
»Heute ist Futtertag«, sagte Touh. »Passen Sie auf.« Er führte Jennifer zurück zum ersten Becken. »Alle drei Tage werden sie mit Fisch und Schweinelungen gefüttert.« Das Mädchen begann, das Futter in das Gehege zu werfen, und sofort verwandelten sich die Bestien in eine kochende, brodelnde Masse. Sie stießen auf das rohe, blutige Fleisch zu und schlugen ihre Saurierfänge hinein. Vor Jennifers Augen stürzten sich zwei von ihnen auf dasselbe Stück und wandten sich sofort gegeneinander. Verbissen griffen sie sich mit Zähnen und Schwanzhieben an, und bald füllte sich das Becken mit Blut. Das eine Krokodil hatte seine Zähne tief in die Kiefer des anderen vergraben und ließ nicht mehr los, obwohl sein Augapfel halb herausgerissen war. Als das Blut stärker hervorströmte und das Wasser verfärbte, beteiligten sich die anderen Tiere an dem Kampf und fielen über ihre verwundeten Artgenossen her. Sie rissen an ihren Köpfen, bis das Fleisch bloßlag, und begannen, sie bei lebendigem Leib zu verspeisen.
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