»Nein.«
Jennifer veränderte ihre Stellung, so daß sie Inspektor Touh studieren konnte. Er hatte ein sehr bewegliches Gesicht, und seine Gesten waren ausdrucksvoll. Er wirkte extrovertiert und redselig, und dennoch schaffte er es, seit Stunden praktisch nichts zu sagen.
Der Wagen mußte wegen eines betjaks halten, eines dreirädrigen Fahrrads, mit dem eingeborene Fahrer Touristen beförderten. Inspektor Touhs Gesicht hatte einen verächtlichen Ausdruck angenommen. »Eines Tages werden wir das verbieten.«
Jennifer und der Inspektor verließen den Wagen einen Block von der Bugisstraße entfernt.
»Hier sind keine Automobile erlaubt«, erklärte Touh. Er nahm Jennifers Arm, und sie begannen, den belebten Bürgersteig entlangzugehen. Nach ein paar Minuten war die Menge so dicht, daß es fast unmöglich wurde, sich zu bewegen. Die Bugisstraße war eng und zu beiden Seiten von Ständen gesäumt, an denen Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch feilgeboten wurden. Es gab Terrassenrestaurants mit kleinen, von Stühlen umgebenen Tischen. Jennifer blieb stehen und sog Farben, Geräusche und Gerüche, die ganze fremdartige Szenerie ein. Inspektor Touh nahm ihren Arm und bahnte ihr einen Weg durch die Menge. Sie erreichten ein Restaurant mit drei Tischen davor, die alle besetzt waren. Der Inspektor ergriff den Arm eines vorbeieilenden Kellners, und einen Augenblick später war der Eigentümer an ihrer Seite. Der Inspektor sagte ein paar Worte auf chinesisch zu ihm. Der Chef ging zu einem der Tische und redete mit den Gästen. Sie sahen zu Inspektor Touh her und standen dann hastig auf, um zu verschwinden. Der Inspektor und Jennifer nahmen an dem Tisch Platz.
»Darf ich Ihnen etwas bestellen?«
»Nein, danke.« Jennifer beobachtete das Menschengewimmel, das sich auf der Straße und den Bürgersteigen drängte. Unter anderen Umständen hätte sie den Abend genossen. Singapur war eine faszinierende Stadt, eine Stadt, die man mit einem Menschen erleben mußte, der einem etwas bedeutete. Inspektor Touh sagte: »Passen Sie auf. Es ist beinahe Mitternacht.«
Jennifer wußte zuerst nicht, was er meinte. Dann bemerkte sie, daß alle Geschäftsleute gleichzeitig ihre Stände zu schließen begannen. Innerhalb von zehn Minuten waren alle Stände abgesperrt, die Besitzer verschwunden. »Was geht da vor?« fragte Jennifer. »Das werden Sie gleich sehen.«
Vom Ende der Straße drang ein Murmeln, und die Menschen zogen sich auf die Bürgersteige zurück. Ein breiter Streifen der Straße war jetzt frei. Ein chinesisches Mädchen in einem langen, enganliegenden Abendkleid wandelte in der Mitte des Streifens. Sie war die schönste Frau, die Jennifer je gesehen hatte. Sie schritt stolz und langsam dahin und blieb hin und wieder an verschiedenen Tischen stehen, um Leute zu begrüßen, ehe sie weiterging.
Als das Mädchen sich dem Tisch näherte, an dem Jennifer und der Inspektor saßen, konnte Jennifer es genauer betrachten, und aus der Nähe war es sogar noch attraktiver. Seine Gesichtszüge waren weich und feingeschnitten, die Figur war atemberaubend. Das an den Seiten hochgeschlitzte weiße Seidenkleid ließ hinreißend geschwungene Schenkel und kleine, perfekte Brüste erkennen.
Als Jennifer sich an den Inspektor wandte, um eine Bemerkung fallenzulassen, erschien ein zweites Mädchen. Es war womöglich noch schöner als das erste. Hinter ihr kamen zwei weitere, und binnen weniger Sekunden war die Straße mit
jungen Mädchen überflutet. Sie waren eine Mischung aus malayischen, indischen und chinesischen Einflüssen. »Es sind Prostituierte, nicht wahr?« riet Jennifer. »Ja, Transsexuelle.«
Jennifer starrte ihn an. Das war doch nicht möglich. Sie beobachtete wieder die Mädchen. Sie konnte absolut nichts Männliches an ihnen erkennen. »Sie nehmen mich auf den Arm.«
»Sie werden die Billy Boys genannt.« Jennifer war verwirrt. »Aber sie...«
»Sie haben sich alle operieren lassen. Sie halten sich für Frauen.« Er zuckte mit den Schultern. »Warum auch nicht? Sie tun niemandem weh. Sie müssen wissen«, fügte er hinzu, »daß Prostitution bei uns verboten ist. Aber die Billy Boys locken Touristen an, und solange sie die Gäste nicht belästigen, drückt die Polizei ein Auge zu.«
Jennifer konnte ihre Blicke nicht von den vollkommenen jungen Leuten wenden, die sich die Straße hinunterbewegten und an den Tischen stehenblieben, um Kunden für sich zu interessieren.
»Es geht ihnen nicht schlecht. Sie berechnen bis zu zweihundert Dollar.«
Die meisten Mädchen saßen jetzt bei Männern an den Tischen und feilschten. Eine nach der anderen standen sie auf und verschwanden mit ihren Kunden.
»Die meisten bringen es auf zwei oder drei Transaktionen pro Nacht«, erklärte der Inspektor. »Sie übernehmen die Bugisstraße um Mitternacht, und um sechs Uhr morgens müssen sie verschwunden sein, damit die Stände wieder öffnen können. Wenn Sie soweit sind, können wir gehen.«
»Ich bin soweit.«
Während sie die Straße hinuntergingen, tauchte Ken Baileys Bild vor Jennifers innerem Auge auf, und sie dachte: Ich hoffe,es geht dir gut und du bist glücklich.
Auf dem Weg zurück zum Hotel entschloß sich Jennifer -Chauffeur hin, Chauffeur her -, die Rede auf Bjork zu bringen.
Als der Wagen sich ihrem Hotel näherte, sagte sie: »Wegen Stefan Bjork...«
»Ach ja. Ich habe dafür gesorgt, daß Sie ihn morgen früh um zehn Uhr besuchen können.«
In Washington wurde Adam Warner aus einer Konferenz gerufen, weil er telefonisch dringend aus New York verlangt wurde.
Staatsanwalt Di Silva war am Apparat. Er frohlockte. »Die Grand Jury hat gerade die Anklageverfügungen ausgesprochen, um die wir sie ersucht haben. In jedem einzelnen Fall. Wir können jederzeit losschlagen.« Er erhielt keine Antwort. »Sind Sie noch dran, Senator?«
»Ja.« Adam zwang sich, begeistert zu klingen. »Das sind ja gute Nachrichten.«
»Innerhalb von vierundzwanzig Stunden müßten wir sie einkreisen können. Wenn Sie nach New York kämen, sollten wir morgen früh eine letzte Konferenz abhalten, damit wir unsere Züge koordinieren können. Wäre das möglich, Senator?«
»Ja«, sagte Adam.
»Ich bereite alles vor. Zehn Uhr morgen früh.«
»Bis dann.« Adam legte den Hörer auf. Die Grand Jury hat gerade die Anklageverfügungen ausgesprochen, um die wir sie ersucht haben. In jedem einzelnen Fall. Adam nahm den Hörer wieder auf und begann zu wählen.
Das Besuchszimmer im Changi-Gefängnis war ein kleiner, kahler Raum mit weißverputzten Wänden und einem langen Tisch mit harten Holzstühlen zu beiden Seiten. Jennifer saß auf einem der Stühle. Sie wartete. Als Stefan Bjork, begleitet von einem uniformierten Wärter, eintrat, blickte sie auf. Bjork war etwa dreißig, ein großer Mann mit einem düsteren Gesicht und hervorquellenden Augen. Er hat es an den Schilddrüsen, dachte Jennifer. Auf Bjorks Wangen und Stirn leuchteten Prellungen. Er nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz.
»Ich bin Jennifer Parker, Ihre Anwältin. Ich werde versuchen, Sie hier herauszuholen.«
Er blickte sie an: »Am besten beeilen Sie sich etwas damit.« Es klang wie eine Drohung. Jennifer dachte an Michaels Worte: Ich möchte, daß du ihn auf Kaution herausholst, ehe er zu singen anfängt.
»Werden Sie gut behandelt?«
Er warf einen versteckten Blick zu dem Wärter an der Tür. »Ja. Es geht.«
»Ich habe beantragt, Sie auf Kaution freizulassen.«
»Wie stehen die Chancen?« Bjork war unfähig, die Hoffnung in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Ich glaube, ganz gut. Es wird längstenfalls noch zwei oder drei Tage dauern.« »Ich muß hier 'raus.« Jennifer stand auf. »Wir werden uns bald wiedersehen.«
»Danke«, sagte Stefan Bjork. Er streckte seine Hand aus. Der Wärter rief scharf: »Nein!« Beide wandten sich um. »Keine Berührung.«
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