»Ihre Chancen stehen nicht sehr gut.« Der Staatsanwalt bemerkte Adams Gesichtsausdruck und deutete ihn falsch. »Keine Sorge. Wenn sie es schafft, haben wir sie in jedem Fall festgenagelt.« Er sah genauer hin und meinte: »Sie sehen aus wie eine aufgewärmte Leiche. Warum fahren Sie nicht nach Hause und ruhen sic h aus?«
»Zuerst möchte ich Jennifer Parker sehen.« Der Arzt sagte: »Sie liegt im Koma. Vielleicht wird sie nie wieder daraus erwachen.« »Ich möchte sie sehen, bitte.« »Natürlich, Senator. Folgen Sie mir.«
Der Arzt führte Adam und Robert Di Silva aus dem Zimmer. Sie gingen den Flur entlang, bis sie ein Schild erreichten, auf dem INTENSIVSTATION - KEIN ZUTRITT! stand. Der Arzt öffnete die Tür und hielt sie den beiden Männern auf. »Sie liegt im ersten Raum.«
Ein Polizist hielt vor der Tür Wache. Als er den Staatsanwalt bemerkte, nahm er Haltung an.
»Niemand kommt in die Nähe dieses Zimmers ohne meine schriftliche Erlaubnis. Haben Sie verstanden?« sagte Di Silva. »Ja, Sir.«
Adam und Di Silva betraten den Raum. Es gab drei Betten, zwei davon leer. Jennifer lag im dritten. Schläuche führten in ihre Nasenlöcher und die Venen an den Handgelenken. Adam trat dicht an das Bett heran und starrte auf sie hinunter. Jennifers Gesicht auf dem weißen Kissen war sehr bleich. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht wirkte jetzt jünger und weicher. Vor Adams Augen lag das unschuldige Mädchen, das er vor Jahren getroffen hatte, das junge Mädchen, das ärgerlich zu ihm gesagt hatte: Glauben Sie, ich würde in diesem Loch leben, wenn ich auch nur ein bißchen Geld hätte? Es ist mir egal, was Sie tun. Lassen Sie mich in Ruhe, mehr will ich nicht. Er dachte an ihren Mut, ihren Idealismus und ihre Verletzlichkeit. Sie war auf der Seite der Engel gewesen, hatte an die Gerechtigkeit geglaubt und war bereit gewesen, dafür zu kämpfen. Was war falsch gelaufen? Er hatte sie geliebt und liebte sie immer noch. Er hatte eine einzige falsche Wahl getroffen, die ihrer beider Leben vergiftet hatte, und er wußte, daß er sich nie wieder schuldlos fühlen würde, solange er lebte. Er wandte sich an den Arzt. »Lassen Sie es mich wissen, wenn sie...« Er konnte es nicht aussprechen. »Halten Sie mich über alles auf dem laufenden.« »Natürlich«, sagte der Doktor.
Adam Warner warf einen langen, letzten Blick auf Jennifer und sagte ihr stumm Lebewohl. Dann drehte er sich um und ging hinaus zu den wartenden Reportern.
Durch den trüben, nebeligen Dunst des Komas hörte Jennifer die Männer gehen. Sie hatte nicht verstanden, was sie gesagt hatten, denn ihre Worte wurden verwischt durch die Schmerzen, die sie in ihrer Gewalt hatten. Sie glaubte, sie habe Adams Stimme gehört, aber das war unmöglich. Er war tot. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, aber die Anstrengung war zu groß.
Jennifers Gedanken wirbelten davon... Abraham Wilson kam in den Raum gestürzt, einen Kasten in der Hand. Er stolperte, der Kasten öffnete sich, und ein gelber Kanarienvogel flatterte heraus... Robert Di Silva schrie: Fangt ihn! Laßt ihn nicht entwischen!... und Michael Moretti hielt ihn in der Hand und lachte, Pater Ryan sagte: Seht alle her! Ein Wunder! Connie Garrett tanzte durch den Raum, und jeder applaudierte... Mrs. Cooper sagte: Ich schenke Ihnen den Staat Wyoming... Wyoming... Wyoming... Adam kam mit Dutzenden roter Rosen herein, Michael sagte: Sie sind von mir, Jennifer sagte: Ich stelle sie in eine Vase... sie verkümmerten und starben, und das Wasser aus der Vase ergoß sich auf den Boden und wurde ein See, auf dem sie und Adam segelten, Michael jagte sie auf Wasserskiern, und dann verwandelte er sich in Joshua und lächelte Jennifer an und winkte und begann, das Gleichgewicht zu verlieren, und sie schrie: Fall nicht!... Fall nicht!... Fall nicht!... eine riesige Welle spülte ihn in die Luft, und er breitete seine Arme aus wie Jesus und verschwand. Einen Augenblick lang wurde Jennifers Verstand klar. Joshua war fort. Adam war fort. Michael war fort.
Sie war allein. Am Ende war jeder allein. Jeder Mensch mußte seinen eigenen Tod sterben. Jetzt würde es ihr leichtfallen, für immer zu gehen.
Gesegneter Friede erfüllte sie. Bald, sehr bald schon wü rde es keine Schmerzen mehr geben.
An einem kalten Januartag wurde Adam Warner auf dem Capitol zum vierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt. Seine Frau trug eine Zobelmütze und einen dunklen Zobelmantel, der wundervoll mit ihrem bleichen Teint kontrastierte und ihre Schwangerschaft beinahe verbarg. Sie stand neben ihrer Tochter, beide sahen stolz zu, wie Adam seinen Amtseid leistete, und das Land freute sich mit ihnen. Sie waren die Edelsten Amerikas - anständig, ehrlich, gut, und sie ge hörten in das Weiße Haus.
In einer kleinen Anwaltspraxis in Kelso im Bundesstaat Washington saß Jennifer Parker allein vor dem Fernsehapparat und sah sich den Amtsantritt des neuen Präsidenten an. Sie wartete, bis die Zeremonie beendet war, bis Adam, Mary Beth und Samantha das Podium verlassen hatten, umgeben von Sicherheitsbeamten. Dann schaltete sie den Apparat aus, und die Bilder verblichen. Es war, als schaltete Jennifer die Vergangenheit ab und verbannte damit alles, was ihr zugestoßen war, die Liebe und den Tod, die Freude und den Schmerz. Nichts hatte sie zerstören können. Sie hatte überlebt. Sie zog ihren Mantel an, setzte einen Hut auf und ging nach draußen, wobei sie einen Augenblick lang stehenblieb und auf das Schild an ihrer Tür blickte. Jennifer Parker, Rechtsanwältin. Sie dachte an die Geschworenen, die sie freigesprochen hatten. Sie war noch immer eine Anwältin, so wie ihr Vater ein Anwalt gewesen war. Und sie würde fortfahren, nach diesem trügerischen Ding, genannt Gerechtigkeit, zu suchen. Sie wandte sich ab und ging in Richtung Gerichtsgebäude. Langsam schritt sie durch die verlassene, windgepeitschte Straße. Leichter Schneefall hatte eingesetzt und breitete einen Chiffonschleier über die Welt. Aus einem nahegelegenen Apartmenthaus drang ein plötzlicher Ausbruch von Heiterkeit. Es war ein so fremdartiges Geräusch, daß Jennifer für einen Augenblick stehenblieb und lauschte.
Dann zog sie ihren Mantel enger um sich und ging weiter die Straße entlang. Sie spähte in den Vorhang aus Schnee vor ihren Augen, als trachtete sie, in die Zukunft zu schauen.
Aber in Wirklichkeit blickte sie in die Vergangenheit und versuchte zu begreifen, wann alles Lachen verklungen und jede Fröhlichkeit für immer im Dunkeln erstorben war.
Die Personen und Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Der Hintergrund aber ist real, und ich bin tief in der Schuld derer, die mir auf großzügige Weise dabei geholfen haben, ihn auszumalen. An einigen Punkten habe ich mir notwendige künstlerische Freiheiten gestattet. Juristische oder faktische Irrtümer gehen allein auf mein Konto. Meinen tiefen Dank dafür, daß sie mich an ihren Gerichtserfahrungen teilnehmen ließen, entrichte ich F. Lee Bailey, Melvin Belli, Paul Caruso, William Hundley, Luke McKissack, Louis Nizer, Jerome Shestack und Peter Taft. In Kalifornien hat mir Richter William Matthew Byrne vom Distriktsgericht der Vereinigten Staaten sehr geholfen. In New York bin ich Mary de Bourbon vom Büro des Staatsanwalts zu Dank verpflichtet, denn sie hat mir das Funktionieren des Gerichtssystems erklärt. Außerdem geht mein Dank an Phil Leshin, ehemals stellvertretender Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit der Gefängnisverwaltung von New York, der mir Zugang zu Riker's Island verschafft hat; und an Pat Perry, den stellvertretender Direktor von Riker's Island. Barry Dastins juristische Beratung hat sich als unschätzbar erwiesen.
Meine Wertschätzung möchte ich Alice Fisher aussprechen, die mir bei den Recherchen für dieses Buch geholfen hat. Und schließlich ein Dankeschön an Catherine Munro, die mit Geduld und Freude beinahe drei Jahre lang ein Buch, das als tausendseitiges Manuskript begann, Dutzende Male abgeschrieben und getippt hat.
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