»Pff, nicht lange«, sagte þröstur. »Übers Meer geht es blitzschnell. Man spart die ganzen Zickzackwege an Land. Bei ruhiger See würde ich etwa fünf Minuten brauchen. Jemand, der untrainiert ist, vielleicht zehn Minuten.«
»Kann man problemlos ein Kajak fahren, wenn man es noch nie gemacht hat?«, fragte Matthias, der bisher nur zugehört hatte.
»Ja, wenn man sich nicht total ungeschickt anstellt«, antwortete þröstur. »Man muss üben, um es gut zu beherrschen. Aber um bei ruhiger See von A nach B zu kommen, muss man nichts können. Nur Kraft haben.« Er stand auf. »Am besten gehe ich erst mal unter die Dusche, bevor ich die Bullen treffe.« Er schob den schweren Holzstuhl unter den Tisch und wollte gehen. Auf einmal fiel ihm etwas ein und er drehte sich wieder zu ihnen.
»Ach, und außerdem erinnert sich der Junge im Auto bestimmt an mich. Es sollte nicht schwer sein, ihn ausfindig zu machen.«
»Welcher Junge? Was meinst du?«, fragte Dóra.
»Als ich aus dem Tunnel gefahren bin, hab ich am Straßenrand ein Auto stehen sehen und gedacht, es ist was passiert. Ich hab angehalten und wollte dem Fahrer anbieten, ihn mitzunehmen. Das war ein total entstellter Junge. Er wollte nicht mitgenommen werden. Wollte einfach nur eine Weile im Wagen sitzen. Es wäre alles okay. Dann hat er die Scheibe hochgekurbelt und wollte nicht weiter mit mir reden.«
»Wann war das ungefähr?«, fragte Matthias.
»Gegen sechs, glaube ich«, antwortete þröstur. »Als ich am späteren Abend wieder zurückfuhr, war er verschwunden. Wahrscheinlich hatte er die Schnauze voll, den Leuten zu sagen, es wäre alles in Ordnung. Ich war nämlich nicht der Einzige, der geglaubt hat, es könnte was passiert sein. Ein anderer Wagen hat neben ihm angehalten, als ich weitergefahren bin«, fügte er hinzu und marschierte ins Hotel.
Matthias trat Dóra unter dem Tisch leicht auf den Fuß. »Ich bin mir sicher, dass Steini hinter Bertha durch den Tunnel gefahren ist, um sich zu vergewissern, dass sie auch bestimmt weg ist. Anschließend ist er an den Rand gefahren, hat ihr hinterhergeschaut, dann kehrtgemacht und Eiríkur erledigt. þröstur hat ihn beim Warten getroffen. Das könnte alles passen.«
»Ist aber ziemlich haarig«, meinte Dóra. »Wenn er gegen sechs am Tunnel war, musste er den ganzen Weg hierher zurückfahren, und das ist kein Katzensprung.«
»Eiríkurs Todeszeitpunkt ist nicht sehr präzise«, erwiderte Matthias. »Zur Abendbrotzeit. Die Leute essen zu unterschiedlichen Zeiten zu Abend.« Er stand auf. »Ich hole schnell die Liste. Ich möchte sehen, wann er Richtung Stadt gefahren ist, das hab ich mir noch nicht angeschaut.«
Dóra wollte nicht noch einmal durch den Gestank in der Lobby gehen und zog es vor, draußen zu warten. Matthias kam geradewegs mit dem Papierstapel zurückgeeilt. »Er ist fünf Wagen hinter Bertha durch den Tunnel Richtung Reykjavík gefahren. Es stimmt alles mit meiner Theorie überein. Er wollte sichergehen, dass sie weg war.« Er knallte den Stapel vor Dóra auf den Tisch. »Ich glaube, wir sind gezwungen, mit Bertha zu reden. Bleibt zu hoffen, dass sie etwas weiß.«
»Bleibt zu hoffen, dass sie etwas weiß und es uns auch mitteilen möchte«, ergänzte Dóra und stand auf. »Wir sollten uns keine Hoffnungen machen, dass sie uns um den Hals fällt, wenn wir ihr zu verstehen geben, dass ihr Freund und Cousin ein Mörder ist. Es könnte länger dauern, bis sie begreift, was für eine abscheuliche Tat er begangen hat.« Sie lächelte. »Falls er sie begangen hat. Ich bin mir da überhaupt nicht so sicher.«
»Jetzt weiß ich, was mich stört!« Dóra schlug sich gegen die Stirn. »Die Erbfolge! Wenn das Kind seine Mutter und seinen Großvater überlebt hat, dann ist sein gesamter Besitz in falschen Händen. Grímur hätte das Kind normalerweise natürlich nicht beerbt.« Sie saßen im Wagen auf dem Zufahrtsweg nach Kreppa, wo sie hofften, Bertha anzutreffen. Ihr Auto stand nicht da, das Haus war verlassen.
»Was meinst du?«, fragte Matthias. »War Grímur nach dem Tod der Mutter und des Großvaters nicht der nächste Verwandte?«
Dóra schüttelte den Kopf. »Nein, der Vater natürlich! Der Vater des Kindes hätte nach dessen Tod alles bekommen.«
»Und das ist aller Wahrscheinlichkeit nach Magnús«, stellte Matthias fest. »So weit hatte ich nicht gedacht. Grímur hätte natürlich nie etwas bekommen dürfen. Deshalb hat er die Kleine versteckt und versucht, alle Hinweise auf ihr kurzes Leben zu beseitigen.«
Dóra schnappte nach Luft. »Und außerdem: Wenn Grímurs Tochter Málfríður von dem Mord gewusst hat, hat sie ihr Erbe ebenfalls unter falschen Voraussetzungen erschlichen.«
»Logisch.« Matthias nickte. »Wenn ihr Vater es unrechtmäßig erhalten hat, dann hat sie ebenso wenig ein Anrecht darauf.«
»Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber soweit ich weiß, sieht die Sache anders aus, wenn sie ahnungslos war. Aber falls meine Vermutung stimmt, war sie das nicht. Sie lebt sogar noch. Als das Grundstück an Jónas verkauft wurde, hatten ihre Kinder, Börkur und Elín, ihre Unterschriftsvollmacht. Offiziell haben sie noch nichts geerbt. Aus der Vollmacht ging hervor, dass ihre Mutter noch keine Erbteilung festgelegt hat.«
»Da gibt’s ganz schön viel zu verlieren«, sagte Matthias. »Und gleichzeitig für den Kindsvater, den alten Magnús, ganz schön viel zu gewinnen.«
»Ja, es hätte ihm nichts gebracht, Birna umzubringen, und dadurch den Fund des Kindes zu verhindern. Im Gegenteil.« Dóra betrachtete den alten Hof durch die Frontscheibe. »Bei Elín und ihrer Familie sieht die Sache allerdings ganz anders aus. Bertha hätte beispielsweise keinen Zufluchtsort mehr hier in Snæfellsnes. Nachdem Grímurs Existenzgrundlage ins Wanken geraten war, ging das Haus in Stykkishólmur in Bjarnis Besitz über, ebenso wie sein Hof«, erklärte Dóra. »Wenn Bertha kein Haus mehr hier im Bezirk hätte, wäre Steini ziemlich einsam.« Sie schaute zu Matthias. »Sollen wir nicht einfach direkt mit ihm reden?«, schlug sie vor. »Wir haben keine Ahnung, wann und wo wir Bertha finden. Sóldís weiß bestimmt, wo Steini wohnt, das wäre also kein Problem.«
»Und þórólfur? Sollten wir ihn nicht lieber informieren, damit er selbst hingehen kann?«
Dóra überlegte kurz. »Nein, nein. Das ist wie mit der Wand. Wir müssen sicher sein, dass wir recht haben, bevor wir die Polizei damit behelligen. Die haben im Moment sowieso genug zu tun.«
Matthias und Dóra standen vor Steinis Haustür und warteten. Es war plötzlich kühler geworden. Die Luft war so frisch, dass einem die Kälte durch Mark und Bein kroch. »Bist du sicher, dass wir Juni haben?«
Bevor Dóra antworten konnte, öffnete sich die Tür einen Spalt. »Was ist?«, erklang die Stimme unter der altbekannten Kapuze.
»Hallo«, sagte Dóra so freundlich wie möglich. »Erinnerst du dich nicht an uns? Wir waren gestern in Kreppa und haben dich und Bertha getroffen. Wir haben uns auch unten in der Bucht gesehen.«
»Ja, was wollt ihr?« Man hätte meinen können, Steini redet mit vollem Mund, so undeutlich war seine Aussprache. Wahrscheinlich konnte er den Mund nicht richtig öffnen. Dóra hoffte, dass ihm das Sprechen keine Schmerzen bereitete. Unabhängig davon, was er anderen möglicherweise angetan hatte, tat er ihr unendlich leid.
»Wir wollten kurz mit dir reden«, sagte Dóra, in der Hoffnung, eingelassen zu werden. »Es geht um den Sonntagabend.«
Der Rollstuhl fuhr ein Stück zurück, und die Tür wurde weit geöffnet. »Kommt rein«, sagte Steini. Aufgrund seiner bizarren Stimme war nicht festzustellen, ob ihm die Unterredung unangenehm war. Dóra und Matthias wechselten beim Eintreten einen Blick, sagten aber nichts.
»Wohnst du schon lange hier?«, fragte Dóra freundlich, nachdem sie das schlichte Wohnzimmer betreten hatten. Auf den ersten Blick wirkte das Haus ziemlich deprimierend. Alles war sehr ordentlich, aber es gab keine Anzeichen, dass wirklich jemand dort wohnte, keine Bilder an den Wänden, nirgends persönliche Gegenstände, außer Krücken, die in der Türöffnung zu dem kleinen Wohnzimmer lehnten. Dieses war etwas einladender als der Flur, mit einer Blumenvase mit Wildblumen aus der Umgebung. Dóra vermutete, dass Bertha den Strauß mitgebracht hatte. Undenkbar, dass der junge, in seinem Rollstuhl kauernde Mann ihn gepflückt und arrangiert hatte.
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