»Ja, findest du nicht?«, entgegnete þórólfur. »Andererseits kann ich dir versichern, dass wir eine mögliche Beteiligung Bergurs an dem Fall überprüfen«, fügte er hinzu, ohne anklingen zu lassen, ob Bergur seiner Meinung nach tatsächlich verdächtig war oder nach wie vor nur Jónas in Frage kam. »Ich will dir nicht verschweigen, dass wir sein Gewehr mit der Kugel aus dem Fuchs abgleichen. Wir haben hierzulande keine Möglichkeit dazu, aber es wurde ins Ausland geschickt. Dauert leider ein paar Tage, bis die Ergebnisse da sind, aber währenddessen ermitteln wir weiter.« Er schloss mit den Worten, er würde nun in den Keller gehen und die Lage peilen.
Dóra ging zu Matthias und musterte ihn von oben bis unten. »Wann warst du das letzte Mal so schmutzig?« Sie zupfte etwas von seinem Pullover, das sich als Knochensplitter entpuppte.
»Vor einer Ewigkeit«, antwortete er. »In der Bank werden sehr selten Wände eingerissen. Und Knochenberge, wie den da unten, gibt’s da auch nicht.«
Dóra erschauerte. Sie erzählte ihm von der Verbindung zwischen Rósa und Jökull, und dass sie kein blutrünstiges Paar waren, wie sie vermutet hatten. »Weißt du«, sagte sie dann, »ich wage zu behaupten, dass derjenige, der den Stein mit der Inschrift neben der Luke aufgestellt hat, wusste, was sich darunter befindet. Es muss eine Art Grabstein sein. Ein geheimer Grabstein.«
»Das bedeutet dann vermutlich, dass das Kind keines natürlichen Todes gestorben ist. Warum sollte man sonst heimlich einen solchen Grabstein aufstellen?« Matthias wartete, bis Dóra die Tür zu ihrem Zimmer aufgeschlossen hatte. »Abgesehen davon, dass nur jemand, der etwas zu verbergen hat, ein totes Kind so beerdigen würde.«
»Ich habe den alten Magnús in Verdacht«, erklärte Dóra, als sich die Tür öffnete. Sie ging geradewegs zum Nachttisch mit dem Telefon. »Ich rufe Elín an und frage sie, ob sie etwas über den Stein weiß. Vielleicht erinnern sich die Geschwister, wann und von wem er aufgestellt wurde.«
»Denkst du, sie will mit dir reden?«
»Ich glaube nicht, dass sie diesmal einfach auflegt«, meinte Dóra. »Nicht, wenn auf dem Grundstück, auf dem ihr Großvater und ihr Urgroßvater und ihre gesamte Familie jahrzehntelang gewohnt haben, ein Kinderskelett gefunden wurde.« Sie schlug Elíns Handynummer nach. »Außerdem benutze ich ja das Hoteltelefon — für den Fall, dass sie meine Handynummer kennt.« Sie wählte Elíns Nummer. »Hallo, Dóra hier«, sagte sie, als abgenommen wurde.
»Was willst du?«, fragte Elín griesgrämig. Man hörte, dass sie im Auto unterwegs war.
»Erstens wollte ich dich wissen lassen, dass eben ein ganzer Berg von Knochen hier auf Kirkjustétt gefunden wurde. Die meisten stammen von Tieren, aber aller Wahrscheinlichkeit nach ist auch ein Menschenskelett dabei. Von einem Kind.«
»Was sagst du da?«, kreischte Elín. »Kinderknochen?« Sie schien wirklich entsetzt zu sein und überhaupt nichts zu begreifen. »Was für ein Kind?«
»Das wird sich noch herausstellen«, erklärte Dóra. Sie wartete, aber Elín sagte kein Wort. »Hinter dem Haus, in östlicher Richtung, steht ein großer Stein mit einem eingemeißelten Vers aus den Volksmärchen, soweit ich weiß. Jemand hat ihn da hingestellt, er kann nicht von Anfang an da gewesen sein.«
»Der Stein«, sagte Elín verwundert. »Was hat der mit der Sache zu tun?«
»Vielleicht gar nichts«, antwortete Dóra entgegen ihrer Vermutung.
»Ich schwöre«, sagte Elín nachdrücklich, »meine Mutter hat den Stein vor vielen Jahren aufgestellt. Es war ein Hochzeitsgeschenk, das sie sich selbst gemacht hat. Frag mich nicht, warum.«
Dóra verbarg ihre Verwirrung darüber, dass Málfríður, Grímurs Tochter, den Stein aufgestellt haben sollte. »Noch eine allerletzte Frage«, sagte sie. »Was haben du und dein Bruder Börkur am Sonntagabend hier in Snæfellsnes gemacht? Ich habe einen Ausdruck von der Polizei über den Tunnelverkehr an dem Tag, und ihr wart beide unterwegs.«
»Wir wollten dich treffen«, antwortete Elín mürrisch. »Weißt du das nicht mehr? Du bist am Montag zu uns gekommen, und wir wollten den morgendlichen Berufsverkehr umgehen und sind schon am Abend vorher nach Stykkishólmur gefahren.«
Dóra verneinte kleinlaut. »Das war nur ein Detail, das ich abhaken wollte«, fügte sie hinzu.
»Du kannst ebenfalls abhaken, dass Börkur am Donnerstagabend nicht nach Snæfellsnes gefahren ist, um jemanden umzubringen«, sagte Elín barsch.
Dóra schwieg einen Moment. Sie wollte nicht zugeben, dass sie keine Ahnung von dieser Fahrt gehabt hatte. »Ach, und was wollte er da?«, fragte sie vorsichtig.
»Er wird sich bestimmt nicht bei mir dafür bedanken, wenn ich dir das sage«, antwortete Elín. »Ich habe es ja selbst kaum aus ihm rausgekriegt.« Elín wurde von lautem Hupen unterbrochen, und als sie wieder zu hören war, fluchte sie. »Diese verdammten alten Säcke, warum wird denen nicht der Führerschein abgenommen, bevor sie am Steuer verrecken?«, schimpfte sie jetzt. »Dóra, ich erzähle dir das jetzt nur, damit du Börkur und mich nicht mehr unnötig verdächtigst.«
»Es ist mir ziemlich egal, warum du es mir erzählst«, antwortete Dóra unfreundlich. »Was hat er gemacht?«
»Er hat einen Immobilienmakler getroffen, der sich unbedingt die Grundstücke ansehen wollte, die eventuell noch zum Verkauf stehen«, erklärte Elín. »Der Makler kann das bestätigen, falls du es anzweifelst.«
Dóra verabschiedete sich und legte auf. »Ihre Mutter hat den Stein aufstellen lassen«, erklärte sie Matthias. »Das sind wirklich merkwürdige Leute, aber sie stammen ja auch aus einer kranken Familie; sowohl ihr Großvater als auch ihre Großmutter hatten mit seelischen Problemen zu kämpfen.« Dóra stand auf. »Aber mit den Morden haben sie wahrscheinlich nichts zu tun, zumindest hat sie mir eine vernünftige Erklärung für ihre Fahrten gegeben.« Dóra holte die Plastiktüte mit den Volksmärchen von Jón Árnason. »Wenn ich den Vers finde, erschließt sich mir durch das dazugehörige Märchen vielleicht, warum ihre Mutter ihn in den Stein hat meißeln und diesen aufstellen lassen.« Sie stellte die Tüte auf den Schreibtisch.
»Du willst doch wohl nicht alle Bände durchsehen?«, fragte Matthias und beobachtete, wie Dóra eine Schwarte nach der anderen aus der Tüte holte.
Dóra überflog das Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes und suchte nach Wiedergängern. »Hier ist es«, sagte sie zufrieden und schaute von dem Buch auf, »eine Geschichte mit dem Titel Zum Menschsein war ich bestimmt. Das muss sie sein.« Dóra las die kurze Geschichte und legte dann das aufgeschlagene Buch in ihren Schoß.
»Und?«, fragte Matthias. »Ich bin mir nicht sicher, ob dein Gesichtsausdruck etwas Gutes oder Schlechtes bedeutet.«
»Ich auch nicht«, entgegnete Dóra. »Die Geschichte handelt von einer Mutter, die ihr Kind ausgesetzt hat. Ein paar Jahre später bekam sie ein zweites Mädchen, das sie großzog. Die Tochter kam ins heiratsfähige Alter, ein junger Mann hielt um ihre Hand an, und die beiden heirateten. Als die Hochzeitsfeier ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde ans Fenster geklopft und folgender Vers aufgesagt: Füllen sollt ich Kufen, errichten Haus und Hof, zum Menschsein war ich bestimmt, so wie du. « Sie blickte zu Matthias. »Es heißt, das ausgesetzte Kind habe den Vers für die Schwester aufgesagt.«
»Der Vers ist also ein Hinweis darauf, dass der Schwester all das zuteil wurde, was normalerweise dem ausgesetzten Kind zugestanden hätte?«, fragte Matthias.
»Ja, anders kann man den Vers nicht verstehen«, antwortete Dóra. »Ob Guðný noch ein zweites Kind hatte?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wohl kaum.«
»Aber wer hat all das bekommen, was gerechterweise Guðnýs Tochter zugestanden hätte?«, fragte Matthias. »Hätte sie ihre Mutter nicht beerben müssen?«
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